«Ich gehe jetzt, Mrs. Brannigan.«
«Wie? Oh, hat Ihnen das niemand gesagt, Tracy? Wir haben heute hohenBesuch. Er wird hier zu Mittag essen. Amy kann also kein Schläfchen machen. Nehmen Sie siebitte mit.«
Tracy mußte sich zwingen, nicht laut zu schreien.»Das… das geht nicht, Mrs. Brannigan.«
Sue EllenBrannigan erstarrte zur Salzsäule.»Und warum geht das nicht?«
Tracy merkte, wie ungehalten Mrs. Brannigan war, und dachte: Ich darf sie nicht verärgern. Sonst sagt sie gleich dem DirektorBescheid, und ich werde in meine Zelle zurückgeschickt.
Tracy quälte sich ein Lächeln ab.»Amy hat doch noch nichts zu Mittag gegessen. Sie wirdbestimmt Hunger haben.«
«Ich habe der Köchin gesagt, sie soll einen Picknickkorbpacken. Sie können mit Amy einen kleinen Spaziergang machen und auf der Wiese picknicken. Amy mag das gern — nicht wahr, Liebling?«
«Ja, sehr, sehr gern. «Sieblickte Tracy flehend an.»Picknicken wir, Tracy? Ja?«
Nein! Doch. Nur keine Panik. Es kann immer noch klappen.
Du darfst nicht zu spät kommen. Keine Minute. Sonst geht's schief.
Tracyblickte Mrs. Brannigan an.»Wann… wann soll ich Amy zurückbringen?«
«So gegen drei. Dann sind die Leute fort.«
Und der Lieferwagen auch. Der Himmel schien einzustürzen.»Ich…«
«Fehlt Ihnen was? Sie sehen soblaß aus.«
Das war die Idee. Tracy würde sagen, sie fühle sich sterbenselend. Sie würde ins Gefängniskrankenhaus gehen. Aber die würden sie dabehalten und untersuchen wollen. Nie im Leben würde sie rechtzeitig im Abstellraum sein. Sie mußte sich etwas anderes einfallen lassen.
Mrs. Brannigan starrte sie an.
«Nein, mir fehlt nichts.«
Mit der stimmt irgendwas nicht. Das war der Schluß, zu dem Sue EllenBrannigan kam. Ich werde wirklich daraufbestehen, daß George ein anderes Kindermädchen ins Haus holt.
Amys Augen strahlten vor Freude.»Die größten Sandwiches kriegst alle du, Tracy. Wir machen es uns schön, ja?«
Tracy wußte keine Antwort darauf.
Der» hoheBesuch «hatte sich überraschend angesagt. Gouverneur William Haber wollte in eigener Person die Mitglieder des Gefängnisreformausschusses durch das Southern Louisiana Penitentiary for Women führen. Damit mußte DirektorBrannigan einmal im Jahr leben.
«Nur keine Aufregung, George«, hatte der Gouverneur gemeint.»Laß dieBude einbißchen putzen, sag deinen Damen, daß sie nett lächeln sollen, und schon kriegen wir unserBudget wieder erhöht.«
Am Morgen hatte der Oberinspektor des Wachpersonals folgende Weisung ausgegeben:»Alle Drogen, Messer und Vibratoren müssen weg.«
Gouverneur Haber und seine Leute sollten um 10 Uhr eintreffen. Sie würden zunächst den Zellentrakt inspizieren,
dann die Farmbesichtigen und schließlich im Haus des Gefängnisdirektors zu Mittag essen.
BigBertha war ungeduldig. Als sie darum ersucht hatte, den Direktor sprechen zu dürfen, hatte man ihr gesagt:»Der Direktor hat heute vormittag sehr wenig Zeit. Morgen wäre es günstiger. Er…«
BigBertha war explodiert:»Scheiß auf morgen! Ich will jetzt mit ihm reden! Das ist unheimlich wichtig!«
Es gabwenig Häftlinge, die sich so etwas herausnehmen durften. BigBertha gehörte zu ihnen.
Die Gefängnisleitung wußte sehr wohl, wie mächtig sie war. Sie hatte erlebt, wieBigBertha Meutereien angezettelt und abgewiegelt hatte. Keine Strafanstalt der Welt konnte reibungslos funktionieren, wenn sich die
Führungspersönlichkeiten unter den Insassen nicht kooperativ verhielten, undBigBertha war eine.
Fast eine Stunde saß sie nun schon im Vorzimmer des Direktors. Ihr massiger Körper quoll über die Kanten des Sessels, in den sie sich geflegelt hatte. Die sieht wirklich fies aus, dachte die Sekretärin des Direktors. Wenn ich die anschaue, wird's mir ganz anders.
«Wie lang dauert das denn noch?«wollteBigBertha wissen.
«Nicht mehr lang. Der Direktor hatBesuch. Er hat heute morgen sehr viel um die Ohren.«
BigBertha sagte:»Der wird gleich noch mehr um die Ohren haben. «Sie warf einenBlick auf ihre Uhr. 12 Uhr 45. Noch 'ne Menge Zeit.
Es war ein herrlicher Tag, warm und wolkenlos, und der leichte Sommerwind trug eine Fülle von Gerüchen über das grüne Land. Tracy hatte auf der Wiesebeim Teich ein Tischtuch ausgebreitet, und Amy aß geradebegeistert ein Sandwich mit Eiersalat. Tracy schaute auf ihre Uhr. Es war
schon eins. Sie konnte es nicht fassen. Der Vormittag hatte sich endlos gedehnt, und jetzt verging die Zeit wie im Flug. Sie mußte sich rasch etwas einfallen lassen, sonst war ihre letzte Chance dahin, in die Freiheit zu gelangen.
13 Uhr 10. Im Vorzimmer von DirektorBrannigan legte die Sekretärin den Hörer auf die Gabel und sagte zuBigBertha:»Tut mir leid. Der Direktor läßt ausrichten, daß er heute nicht mit Ihnen sprechen kann. Wir machen einen anderen Termin aus. Wie wäre es zumBeispiel mit…«
BigBertha wuchtete sich aus ihrem Sessel empor.»Er muß aber mit mir reden! Es ist…«
«Sagen wir, morgen, ja?«
BigBertha wollte erwidern:»Morgen ist es zu spät. «Aber sie hielt ihre Zunge im Zaum. Nur der Direktor durfteBescheid wissen. Wer hier petzte, hatte oft einen tödlichen Unfall. Aber sie würde nicht aufgeben. Sie würde sich Tracy Whitney nicht durch die Lappen gehen lassen. BigBertha watschelte in die Gefängnisbibliothek und setzte sich an einen der langen Tische im rückwärtigen Teil des Raumes. Sie schriebetwas auf einen Zettel, und als die Aufseherin an ihrem Tisch vorbei zu einem der Regale ging, um einer Gefangenenbehilflich zu sein, standBigBertha auf und ließ den Zettel liegen.
Als die Aufseherin wieder an dem Tisch vorbeikam, sah sie den Zettel und faltete ihn auseinander. Sie las ihn zweimaclass="underline"
GUT AUFPASSEN HEUTE AUF DEN LIEFERWAGEN VON DER
WÄSCHEREI!
Keine Unterschrift. Ein dummer Witz? Die Aufseherin wußte es nicht. Sie griff nach dem Telefon.»Den Oberinspektor des Wachpersonals, bitte.«
13 Uhr 12.»Du ißt ja gar nichts«, sagte Amy.»Magst du was von meinem Sandwich?«
«Nein! Laß mich in Ruhe. «Sobarsch hatte Tracy eigentlich nicht sein wollen.
Amy hörte auf zu essen.»Bist duböse auf mich, Tracy? Bitte, sei nichtböse auf mich. Ich habdich so lieb. Ichbin nieböse auf dich.«
«Nein, ichbin nichtböse auf dich. «Ichbrate nur in der Hölle.
«Wenn du keinen Hunger hast, habich auch keinen. Laß unsBall spielen, Tracy. «Amy zog einen Hartgummiball aus der Tasche.
13 Uhr 16. Sie hätte schon unterwegs sein müssen. Zum Abstellraumbrauchte sie mindestens fünfzehn Minuten. Sie würde es mit knapper Not schaffen, wenn sie sich jetztbeeilte.
Aber sie konnte Amy nicht einfach allein lassen. Tracyblickte sich um und sah in einiger Entfernung eine Gruppe von Häftlingen, die Gemüse ernteten. Und nun wußte Tracy, was sie machen würde.
«Magst du nichtBall spielen, Tracy?«
Tracy stand auf.»Doch. Spielen wir was Neues. Wir schauen mal, wer denBall am weitesten werfen kann. Erst werfe ich, und dann kommst du. «Tracy nahm denBall und warf ihn so weit sie konnte, in die Richtung der Arbeiterinnen.
«Toll«, sagte Amybewundernd.»Das war wirklich weit.«
«Ich hole denBall jetzt wieder«, sagte Tracy.»Du wartest hier.«
Und sie rannte, rannte um ihr Leben. Es war 13 Uhr 18. Wenn sie einbißchen zu spät kam, würden sie ja wohl auf sie warten. Oder nicht! Sie legte noch etwas Tempo zu. Hinter sich hörte sie Amy rufen, aber sie achtete nicht darauf. Die Arbeiterinnenbewegten sich jetzt in die andere Richtung. Tracy schrie ihnen nach, und sieblieben stehen. Als siebei ihnen ankam, war sie außer Atem.
«Ist was?«fragte eine der Frauen.
«Nein, nichts. «Tracy keuchte, schnappte nach Luft.»Das kleine Mädchen da hinten. Jemand von euch kümmert sich um