Und dannblickte Tracy auf und sah es. Es war ein unglaublichesBild. Hunderttausende von schreienden Menschen, die Masken trugen, als Drachen und Alligatoren und heidnische Götter verkleidet waren, füllten die Straßen
undBürgersteige. Der Lärm war ohrenbetäubend.
«Steigen Sie aus, bevor die mir mein Taxi umkippen«, befahl der Fahrer.»Dieser gottverdammte Karneval.«
Natürlich, wie hatte sie es vergessen können. Es war Februar, und die ganze Stadt stürzte sich in den Faschingstrubel. Tracy stieg aus, stand mit dem Koffer in der Hand amBordstein und wurde im nächsten Moment hineingerissen in die lärmende, tanzende Menge. Es war obszön, ein Hexensabbat! Eine Million Furien feierte den Tod ihrer Mutter! Der Koffer wurde Tracy aus der Hand gerissen und verschwand. Ein dicker Mann mit Teufelsmaske hielt sie fest und küßte sie, ein Hirsch drückte ihr dieBrüste, ein Riesenpanda packte sie von hinten und hobsie hoch. Sie kämpfte sich frei, wollte davonrennen, aber es war unmöglich. Sie war eingekeilt, saß in der Falle, ein winziger Teil der ausufernden Festivitäten, schwamm mit in der johlenden Menge. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Schließlich konnte sie sich doch losreißen und in eine ruhige Straße fliehen. Sie war dem Zusammenbruch nahe. Lange Zeit stand sie reglos da, gegen einen Laternenpfahl gelehnt, atmete tief undbekam sich allmählich wieder in die Gewalt. Dann machte sie sich auf den Weg zur Polizeidirektion.
Lieutenant Miller war ein Mann in mittleren Jahren. Er sahbekümmert aus, hatte ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht und schien sich in seiner Rolle äußerst unwohl zu fühlen.»Tut mir leid, daß ich Sie nicht vom Flughafen abholen konnte«, sagte er zu Tracy,»aber die ganze Stadt ist zur Zeit übergeschnappt. Wir haben die Sachen Ihrer Mutter durchgesehen, und Sie waren die einzige, die wir anrufen konnten.«
«Bitte, Lieutenant, bitten sagen Sie mir, was… was meiner Mutter passiert ist.«
«Sie hat Selbstmordbegangen.«
Ein kalter Schauer überlief Tracy.»Aber das ist doch unmöglich! Warum sollte sie sich umbringen? Sie hatte doch allen Grund zu leben!«Tracys Stimme klang verzweifelt.
«Sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Er ist an Sie gerichtet.«
Das Leichenschauhaus war kalt und neutral und erschreckend. Tracy wurde durch einen langen weißen Korridor in einen großen, sterilen Raum geführt.
Ein Mann im weißen Kittel schlenderte zur nächsten Wand, streckte die Hand nach einem Griff aus und zog eine überdimensionale Schublade auf.»Wollen Sie mal schauen?«
Nein! Ich mag den leeren, leblosen Körper nicht in diesem Kasten liegen sehen. Tracy wollte nur eines: fort. Ein paar Stunden zurück in die Vergangenheit, zurück zum Klingeln der Glocken. Und es soll ein richtiger Feueralarm sein, nicht das Telefon, nicht die Nachricht vom Tod meiner Mutter. Tracybewegte sich langsam vorwärts. Jeder Schritt war ein stummer Schrei. Dannblickte sie auf die leblose Hülle nieder, die sie ausgetragen, gestillt und genährt, mit ihr gelacht und sie geliebt hatte. Siebeugte sich herabund küßte ihre Mutter auf die Wange, die kalt war und sich gummiartig anfühlte.»Oh, Mutter«, flüsterte Tracy.»Warum? Warum hast du das getan?«
Der kurze Abschiedsbrief, den Doris Whitney hinterlassen hatte, gabkeine Antwort auf diese Frage.
Liebe Tracy,
bitte verzeih mir. Ichbin gescheitert, und ich hätte es nicht ertragen, Dir zur Last zu fallen. Es istbesser so. Ich liebe Dich.
Deine Mutter
Die Zeilen waren so leblos und leer wie der Körper in der Schublade.
Am Nachmittag traf Tracy alle Vorbereitungen für dieBeerdigung und fuhr dann mit dem Taxi zum Haus der Familie Whitney. In der Ferne hörte sie den Lärm der ausgelassenen, ihren Karneval feiernden Menge.
Das Haus der Whitneys stammte aus dem 19. Jahrhundert und war, wie die meisten Wohnhäuser in New Orleans, in Holzbauweise errichtet und nicht unterkellert. Hier in diesem Haus war Tracy aufgewachsen, und esbargbehagliche Erinnerungen.
Sie war seit einem Jahr nicht mehr hier gewesen, und als das Taxi vor dem Haus hielt, sah sie schockiert das große Schild auf dem Rasen: ZU VERKAUFEN. Darunter der Name einer Immobilienfirma. Nein, das war unmöglich. Dieses Haus werde ich nie verkaufen, hatte Tracys Mutter oft gesagt. Wir waren hier alle so glücklich.
Von seltsamer Furcht erfüllt, ging Tracy an der großen Magnolie vorbei zur Vordertür. In der siebten Klasse hatte sie ihren eigenen Hausschlüsselbekommen, den sie seitdem stetsbei sich trug — als Talisman, als Erinnerung an jenen Ort der Geborgenheit, an den sie jederzeit zurückkehren konnte.
Sie sperrte die Tür auf, trat ein undbliebwiebetäubt stehen. Die Zimmer waren völlig kahl, die schönen alten Möbel fort. Tracy lief von Raum zu Raum. Sie konnte es nicht fassen. Es war, als sei eine Katastrophe über das Haus hereingebrochen. Tracy eilte in den ersten Stock und stand in der Tür zu dem Zimmer, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens gewohnt hatte. Kalt und leer starrte es sie an. O Gott, was ist geschehen? Tracy hörte die Türglocke und stieg wie in Trance die Treppe hinunter, um zu öffnen.
Otto Schmidt stand vor ihr, der Werkmeister der Whitney Automotive Parts Company. Er war weit über sechzig, hatte ein runzliges Gesicht und einen, abgesehen vomBierbauch, zaundürren Körper. Ein Kranz von widerspenstigen grauen
Haaren säumte seinen nackten Schädel.
«Tracy«, sagte er.»Ich habe es eben erfahren. Ich… ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut.«
Tracy drückte ihmbeide Hände.»Ach, Otto. Ichbin so froh, Sie zu sehen. Kommen Sie herein. «Sie führte ihn in das leere Wohnzimmer.»Tut mir leid, daß man hier nirgendwo sitzen kann«, entschuldigte sie sich.»Wir müssen uns auf denBoden setzen. Macht es Ihnen was?«
«Nein, nein.«
Sie nahmen einander gegenüber Platz, die Augen verschleiert vor Kummer. Otto war schon jahrelangbei der Firma, und Tracy wußte, wie sehr sich ihr Vater auf ihn verlassen hatte. Als ihre Mutter die Firma übernommen hatte, war Schmidt geblieben und ihrbei der Leitung des Geschäfts zur Hand gegangen.
«Otto, ich verstehe das alles nicht. Die Polizei sagt, meine Mutter hat Selbstmordbegangen. Aber Sie wissen ja, daß sie keinen Grund hatte, sich umzubringen. «Plötzlich durchzuckte sie ein entsetzlicher Gedanke.»Sie war doch nicht krank, oder? Sie hatte keine furchtbare…«
«Nein, das nicht. «Otto Schmidt schautebetreten weg. In seinen Worten schwang irgend etwas Unausgesprochenes mit.
Langsam sagte Tracy:»Sie wissen, woran es lag.«
Erblickte sie aus feuchtenblauen Augen an.»Ihre Mutter hat Ihnen nicht erzählt, was hier in letzter Zeit passiert ist. Sie wollte nicht, daß Sie sich Sorgen machen.«
Tracy runzelte die Stirn.»Sorgen? Warum? Sprechen Sie weiter…bitte.«
Er öffnete die schwieligen Hände und schloß sie wieder.»Ist Ihnen der Name Joe Romano einBegriff?«
«Joe Romano? Nein. Warum?«
Otto Schmidt kniff die Augen zusammen.»Vor sechs Monaten ist Romano an Ihre Mutter herangetreten. Er wollte
die Firma kaufen. Sie hat abgewinkt, aber er hat ihr das Zehnfache von dem geboten, was das Geschäft wirklich wert ist, und da konnte sie nicht widerstehen. Sie war so aufgeregt. Sie wollte das ganze Geld in Wertpapieren anlegen. Die hätten soviel Zinsen gebracht, daß Siebeide den Rest Ihres Lebens gut davon hätten leben können. Sie wollte Sie überraschen. Ich habe mich so sehr für Sie gefreut. Ich wollte mich eigentlich schon vor drei Jahren zur Ruhe setzen, aber ich konnte Mrs. Doris ja nicht einfach allein lassen, nicht wahr? Dieser Romano…«, Otto spie das Wort fast aus,»… dieser Romano hat eine kleine Anzahlung geleistet. Das große Geld sollte vorigen Monat kommen.«
«Ja, und weiter?«fragte Tracy ungeduldig.»Was ist passiert?«
«Als Romano die Firma übernommen hat, hat er allen gekündigt und seine Leute in denBetriebgesetzt. Dann hat er die Firma systematisch ausgeplündert. Er hat das gesamte Inventar verkauft, eine Menge neue Maschinenbestellt und weiterverkauft, aber nicht dafürbezahlt. Die Lieferfirmen waren zunächst nichtbeunruhigt. Sie haben gedacht, sie hätten es noch mit Ihrer Mutter zu tun. Als sie Ihre Mutter schließlich angemahnt haben, ist sie zu Romano gegangen und wollte wissen, was eigentlich los ist. Romano hat gesagt, er wäre nun doch nicht interessiert, und sie könnte die Firma wiederhaben. Aber inzwischen war die Firma nichts mehr wert. Und Ihre Mutter hatte außerdem eine halbe Million Dollar Schulden, die sie nichtbezahlen konnte. Tracy — meine Frau und ich haben mitverfolgt, wie Ihre Mutter gekämpft hat, und es hat uns fast umgebracht. Sie hat mit allen Mitteln versucht, die Firma zu retten. Es ging nicht. Sie mußte Konkurs anmelden. Und sie haben ihr alles genommen: das Geschäft, dieses Haus, sogar ihr Auto.«