Dumaresq sagte:»Während meiner Abwesenheit an Land ist Ihr Matrose Murray desertiert. Er war nicht in seiner Zelle, sondern auf dem Weg zum Krankenrevier, weil er über starke Magenschmerzen klagte. «Er verlagerte seinen Zorn auf den Master.»Gott verdamm-mich, Mr. Gulliver, es war doch klar, was Murray vorhatte!»
Gulliver feuchtete seine Lippen an.»Ich hatte das Kommando über das Schiff, Sir, und sah keinen Grund, Murray leiden zu lassen, zumal der Mann noch nicht schuldig befunden war.»
Midshipman Jury sagte:»Die Meldung ist von mir nach achtern gebracht worden, Sir. Es war meine Schuld.»
Dumaresq fuhr ihm brüsk über den Mund:»Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden! Sie hatten keine Schuld, denn Kadetten tragen noch keine Verantwortung. Dazu besitzen Sie weder den Verstand noch die Erfahrung. «Sein Blick kehrte zu Gulliver zurück.»Erzählen Sie Mr. Bolitho den Rest.»
Gullivers Stimme klang belegt.»Der Schiffskorporal begleitete Murray und wurde von ihm niedergeschlagen. Murray sprang über Bord und schwamm an Land, bevor Alarm geschlagen werden konnte. «Er schien beleidigt, weil er seine Erklärung für einen so jungen Leutnant wiederholen mußte.
Dumaresq sagte:»So ist das also. Ihr Vertrauen in den Mann war ungerechtfertigt. Er floh vor der Prügelstrafe. Aber wenn wir ihn jetzt fangen, muß er hängen. «Er schaute Spillane an.»Schreiben Sie ins Logbuch: >Desertiert<!»
Bolitho bemerkte Jurys bekümmerte Miene. Es gab nur drei Möglichkeiten für einen Mann, die Marine zu verlassen: R, D oder DD im Logbuch. R bedeutete Run (desertiert), D stand für Discharged (gestrichen wegen Untauglichkeit), DD für Discharged-Dead (gestrichen — tot). Murrays nächste Eintragung würde die letzte für ihn sein: DD, also gestrichen — tot.
Und alles wegen einer Uhr. Aber trotz seiner Enttäuschung über Murray war Bolitho seltsam erleichtert. Es drohte keine Auspeitschung des Mannes mehr, den er mochte und der Jury das Leben gerettet hatte. Und auch was hinterherkam, dieses Nachspiel von Bitterkeit und Mißtrauen, war vermieden, wenn die Flucht gelang.
Dumaresq sagte langsam:»Genug davon. Mr. Bolitho, Sie bleiben bitte noch. Die anderen können weitermachen.»
Macmillan schloß die Tür hinter Jury und Gulliver. Die steifen Schultern des Masters drückten seine Empörung aus.
Dumaresq fragte:»Sie meinen, ich sei zu hart? Aber nur so kann verhängnisvolle Weichheit später vermieden werden. «Er hatte sich so schnell beruhigt, wie nur er es konnte. Ohne sichtbare Anstrengung schüttelte er den Zorn von sich ab.»Ich bin erfreut, daß Sie gestern abend eine gute Figur gemacht haben, Mr. Bolitho. Ich hoffe, Sie haben Augen und Ohren offengehalten.»
In diesem Augenblick stampfte die Muskete des Kajütpostens draußen wieder auf.»Der Erste Offizier, Sir!»
Bolitho beobachtete, wie Palliser die Kajüte betrat, den Tagesdienstplan unter dem Arm. Er sah hagerer aus als sonst, als er sagte:»Die Wasserprähme sollen heute endlich kommen, Sir. Ich werde Mr. Timbrell sagen, daß er sich entsprechend vorbereitet. Ferner stehen zwei Leute zur Beförderung an, und dann ist da noch die Frage, wie der Korporal bestraft werden soll, der Murray entkommen ließ. «Sein Blick wanderte zu Bolitho, dem er ein kurzes Nicken gönnte.
Bolitho fragte sich, ob es Zufall war, daß Palliser sich immer in der Nähe aufhielt, wenn er selbst mit dem Kommandanten sprach.
«Sehr gut, Mr. Palliser, obwohl ich erst an diese Wasserprähme glaube, wenn ich sie sehe. «Dumaresq schaute Bolitho an.»Bringen Sie Ihren Aufzug in Ordnung und fahren Sie dann an Land. Ich glaube, Mr. Egmont hat einen Brief für mich.»
Er lächelte flüchtig.
«Halten Sie sich nicht zu lange auf, denn ich weiß, daß es viele Ablenkungen in Rio gibt.»
Bolitho spürte, wie er rot anlief.»Aye, Sir. Ich werde mich sofort auf den Weg machen. «Er eilte aus der Kajüte und hörte noch Duma-resq» junger Teufel «sagen, aber ohne Bosheit in der Stimme.
Zwanzig Minuten später saß Bolitho in der Jolle und wurde an Land gepullt. Er sah, daß Stockdale als Bootssteurer fungierte, befragte ihn aber nicht deswegen. Stockdale schien schnell Freunde zu gewinnen, obwohl sicher auch seine furchterregende Erscheinung damit zu tun hatte, daß man ihm so viel Bewegungsfreiheit ließ.
Stockdale befahl plötzlich:»Auf Riemen!»
Die Riemen ruhten tropfend in den Rundsein, und Bolitho bemerkte, daß die Jolle Fahrt verlor und damit vermied, daß sie von einem anderen Schiff über den Haufen gesegelt wurde. Es war eine Brigg, ein kräftiges, aber offenbar nicht mehr neues Schiff mit geflickten Segeln und manchen Schrammen am Rumpf, die auf harte Kämpfe mit We l-len und Wind hinwiesen.
Die Brigg hatte schon Marssegel gesetzt, und Leute kletterten gerade an den Stagen herunter, um auch die Breitfock loszumachen, noch bevor sie frei waren von den vor Anker liegenden Schiffen.
Langsam glitt sie zwischen der Jolle der Destiny und einigen einlaufenden Fischerbooten hindurch, dabei fiel ihr Schatten auf die Ruderer, die vor sich hinträumten und darauf warteten, daß es weiterging.
Bolitho las den Namen über ihrem Heck: Rosario. Eines von Hunderten ähnlicher Fahrzeuge, die täglich Stürmen und anderen Gefahren trotzten, um Handel zu treiben und die Grenzen des wachsenden Kolonialreiches weiter vorzuschieben.
Stockdale befahclass="underline" »Rudert an!»
Bolitho wollte seine Aufmerksamkeit gerade auf das Ufer richten, als er eine Bewegung am Heckfenster der Rosario bemerkte. Im ersten Augenblick dachte er, es sei ein Irrtum, aber das war es nicht: Das schwarze Haar und ovale Gesicht waren unverkennbar. Sie war zu weit weg, als daß er das Violett ihrer Augen erkennen konnte, doch sah er, daß sie zu ihm herüberschaute, bevor die Brigg Kurs änderte und das Sonnenlicht die Heckfenster in feurige Spiegel verwandelte.
Mit bangem Herzen erreichte Bolitho das Haus hinter der uralten Mauer. Egmonts Diener erklärte ihm kühl, daß die Herrschaften abgereist seien. Er wüßte nicht, wohin.
Bolitho kehrte an Bord zurück, um Dumaresq zu berichten. Er erwartete einen neuerlichen Zornesausbruch wegen des abermaligen Rückschlags.
Palliser stand dabei, als Bolitho mit dem herausplatzte, was er erfahren hatte, obwohl er nicht erwähnte, daß er Egmonts Frau auf der Rosario gesehen hatte. Das war auch nicht nötig, denn Dumaresq sagte:»Das einzige Schiff, das inzwischen ausgelaufen ist, war die Brigg. Er muß an Bord sein. Wer einmal ein verdammter Verräter war, der bleibt es auch. Schön, er soll uns diesmal nicht entwischen, bei Gott nicht!»
Palliser sagte ernst:»Das also war der Grund für all die Verzögerungen. Kein Trinkwasser, keine Audienz beim Vizekönig. Sie wollten uns hier festhalten. «Sein Ton klang plötzlich bitter.»Wir haben keine Bewegungsfreiheit, und sie wissen das.»
Überraschenderweise zeigte Dumaresq ein breites Lächeln. Dann rief er:»Macmillan, ich möchte eine Rasur und ein Bad! Spillane, halten Sie sich bereit, einige Befehle für Mr. Palliser niederzuschreiben. «Er ging zu den Heckfenstern und beugte sich über das Süll, den Kopf zum Ruder gesenkt.»Suchen Sie sich ein paar gute Leute aus, Mr. Palliser, und schiffen Sie sich mit ihnen auf der Heloise ein. Treiben Sie möglichst wenig Aufwand, damit das Wachboot nicht aufmerksam wird. Nehmen Sie deshalb auch keine Seesoldaten mit. Gehen Sie Anker auf, und jagen Sie der verdammten Brigg nach. Verlieren Sie sie nicht aus den Augen!»
Bolitho beobachtete die Veränderung, die in Dumaresq vorging. Nun wurde auch klar, warum er Slade daran gehindert hatte, bis in die Innenreede zu segeln. Er hatte eine ähnliche Entwicklung vorausgesehen und nun einen Trumpf in der Hand — wie immer.