Bolitho zuckte zusammen, als eine Musketenkugel neben ihm ins Deck schlug und einen Splitter von der Größe eines Federkiels ablöste.
«Jetzt oder nie!«Er sah, wie die See in einen Niedergang schlug und einen der Leichname in wildem Tanz herumwirbelte. Der Vorsteven war bereits unter die Wasseroberfläche gesackt. Den schnaufenden und taumelnden Stockdale zwischen sich, sprangen Bolitho und Jury ins Wasser. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie das nächste Boot erreichten; dort durften sie sich neben einigen anderen Leuten ans Dollbord hängen, da das Boot voll besetzt war. Dabei mußten sie versuchen, die Männer an den Riemen nicht zu behindern, die zur entmasteten Rosario pullten.
Die meisten Leute um ihn herum waren Bolitho fremd; er nahm an, daß es freigelassene Gefangene waren. Ein Wunder, daß Olsson, der so brutal aussah, sie nicht ihrem Schicksal auf dem sinkenden Schiff überlassen hatte.
Dann plötzlich erhob sich die Bordwand der Brigg über ihnen. Es war nur ein kleines Schiff, aber vom Wasser aus schien sie Bolitho, der sich an eine ihm zugeworfene Leine klammerte, so groß wie eine Fregatte.
Schließlich waren sie alle an Deck geklettert, gezogen oder geschoben und standen der Besatzung der Brigg gegenüber, die sie anstarrte, als seien sie dem Meer selbst entstiegen.
Palliser ließ niemanden im Zweifel, wer das Kommando führte:»Little, bringen Sie die Gefangen nach unten und schließen Sie sie ein. Pearse, Sie schauen nach, ob sich ein Notmast aufriggen läßt, jedenfalls irgend etwas, das uns wieder Ruderwirkung geben kann. «Er ging an einigen verschreckten und blutenden Leuten entlang und fuhr sie an:»Ladet sofort die Kanonen, hört ihr! Ihr kommt mir vor wie ein Haufen alter Weiber, verdammt noch mal!»
Ein Mann, der offenbar etwas zu sagen hatte, drängte sich durch die Seeleute und sagte:»Ich bin Kapitän John Mason. Ich weiß, warum Sie hier sind, aber ich danke Gott für Ihr Kommen, Sir, obwohl ich befürchte, daß wir den Piraten auch jetzt nicht gewachsen sind.»
Palliser betrachtete ihn kühl.»Das werden wir sehen. Aber jetzt tun Sie, was ich befehle. Wie Sie und Ihre Leute sich heute aufführen, wird darüber entscheiden, was mit Ihnen geschieht.»
Der Mann schnappte nach Luft.»Ich verstehe nicht, Sir.»
«Haben Sie einen Passagier namens Jonathan Egmont?»
Bolitho lehnte am Schanzkleid und holte in tiefen Atemzügen Luft, während Wasser aus seiner Kleidung rann und sich mit Blut unter der nächsten Kanone mischte.
«Aye, Sir, aber.»
«Lebt er?»
«Ja. Wenigstens lebte er noch, als ich ihn zuletzt sah. Ich habe meine Passagiere nach unten geschickt, als der Angriff begann.»
Palliser lächelte grimmig.»Ihr Glück. Und auch meines, denke ich. «Er sah Bolitho und setzte scharf hinzu:»Sorgen Sie für die Sicherheit Egmonts. Aber sagen Sie ihm nichts. «Er wollte sich einem der beiden Schoner zuwenden, bemerkte aber gerade den letzten Augenblick der Heloise. Mit Gischtfontänen aus ihren Luken sackte sie unter die Wasseroberfläche. Palliser sagte:»Bin froh, daß Sie uns erhalten blieben, Mr. Bolitho. Ich hatte schon befohlen, das Schiff zu verlassen.»
Sein Blick ruhte einen Augenblick auf Jury und Stockdale.»Indessen.»
Bolitho wankte einem offenen Luk zu. Seine benommenen Sinne waren noch immer von dem Anblick der hilflos in der Dünung rollenden Rosario gefangen. Die Brigg war schrecklich zugerichtet. Umgestürzte Kanonen, Leichen und Gliedmaßen lagen mit den übrigen Trümmern in wildem Durcheinander herum und zeugten von den verzweifelten Anstrengungen, die Angreifer vom Entern abzuhalten.
Ein Matrose — in der einen Hand eine Pistole, um die andere einen behelfsmäßigen Verband — rief:»Hier geht's runter, Sir!»
Bolitho kletterte eine Leiter hinab. Sein Magen rebellierte beim Anblick von so viel Leid und Schmerz. Drei Männer lagen besinnungslos oder tot vor ihm, ein vierter kroch, so gut er konnte, an seine Gefechtstation zurück.
Egmont stand an einem Tisch und trocknete sich die Hände an einem Fetzen Stoff, während ein Matrose eine Lampe für ihn putzte.
Er erkannte Bolitho und bedachte ihn mit müdem Schulterzucken.»Ein unerwartetes Zusammentreffen, Leutnant.»
Bolitho fragte:»Haben Sie die Verwundeten versorgt?»
«Sie kennen die Marine, Leutnant. Es ist sehr lange her, seit ich unter dem Vater Ihres Kommandanten diente, aber was man einmal gelernt hat, vergißt man nie.»
Bolitho hörte das eifrige Schnaufen der Pumpen und das Scharren von Blöcken und Taljen, die geschäftig über das Oberdeck gezogen wurden. Die Matrosen der Destiny waren wieder an der Arbeit, und er wurde gebraucht, um Palliser zu helfen und die Leute — notfalls mit Gewalt — anzutreiben.
Sie waren in einem wilden Gefecht gewesen, und einige hatten dabei ihr Leben verloren. Nun mußten sie abermals heran. Ließ man sie verschnaufen, würden sie sich fallen lassen. Erlaubte man ihnen, den Verlust eines guten Freundes zu beklagen, würden sie ihren Kampfgeist verlieren.
Bolitho fragte:»Ihre Frau — ist sie in Sicherheit?»
Egmont wies auf ein Schott.»Da drin.»
Bolitho warf sich mit der Schulter dagegen, wobei ihn die Angst, wieder unter Deck eingeklemmt zu werden, packte. Im schwachen Lampenlicht sah er drei Frauen in einer fenster- und luftlosen Kammer: Aurora Egmont, ihre Zofe und eine füllige Dame, in der er die Frau des Kapitäns vermutete. Er sagte:»Gott sei Dank, Sie sind unversehrt. «Aurora kam auf ihn zu, und da ihre Füße in dem Dämmerlicht der Kammer unsichtbar waren, schien es, als ob sie auf ihn zuschwebe. Sie hob eine Hand, strich ihm über das Gesicht und sein nasses Haar und sagte leise:»Ich dachte, Sie wären noch in Rio. «Ihre Hände berührten seine Brust und seine herabhängenden Arme.»Mein armer Leutnant, was hat man Ihnen angetan?«Bolitho meinte, den Verstand zu verlieren. Selbst hier, in den Ausdünstungen der Bilge und des Todes, roch er ihr Parfüm; er spürte den leichten Druck ihrer Finger auf seinem Gesicht und hätte sie gern umarmt, ihren Körper an sich gepreßt wie in seinem Traum, die Sorgen mit ihr geteilt, ihr sein Verlangen offenbart.»Bitte. «Er versuchte, zurückzutreten.»Ich bin naß und schmutzig. Ich wollte mich nur vergewissern, daß Sie unverletzt sind. «Sie wischte seinen Protest beiseite und legte ihm die Hände auf die Schultern.»Mein tapferer Leutnant!«Dann wandte sie sich zu ihrer Zofe um und sagte scharf:»Hör auf zu heulen, du dummes Mädchen. Wo ist dein Stolz?»
In diesen Sekunden fühlte Bolitho, daß sich ihre Brust gegen sein nasses Hemd preßte, als sei kein Stoff mehr zwischen ihren Körpern. Er murmelte:»Ich muß gehen!»
Sie sah ihn so eindringlich an, als suche sie sich jeden Zug einzuprägen.»Wollen Sie wieder kämpfen? Müssen Sie?»
Bolitho fühlte neue Kraft in seinen Körper strömen. Er vermochte sogar zu lächeln, als er sagte:»Ich habe jetzt jemanden, für den ich kämpfe, Aurora.«»Sie wissen noch meinen Namen?»
Dann zog sie seinen Kopf herunter und küßte ihn fest auf den Mund. Dabei zitterte sie genau wie er. Die Beschimpfung der Zofe war nur eine Ablenkung gewesen. Sie flüsterte:»Nimm dich in acht, Richard.»
Als Bolitho zurückeilte und die Leiter hochkletterte, hörte er schon von fern Pallisers Stimme. Palliser beobachtete die beiden großen Schoner durch ein Fernrohr; ohne es zu senken, sagte er trocken:»Darf ich annehmen, daß unten alles wohlauf ist?»
Bolitho wollte an seinen Hut tippen, erinnerte sich aber, daß er ihn schon vor langer Zeit verloren hatte.
«Aye, Sir. Egmont hilft den Verwundeten.»
«Tatsächlich?«Palliser schob das Teleskop mit einem Knall zusammen.»Hören Sie gut zu: Die Teufel werden versuchen, unsere Kräfte zu zersplittern. Einer wird etwas abhalten, während der andere anläuft, um uns zu entern. «Er dachte laut.»Wir haben einen Kampf überlebt, nun wollen sie den völligen Sieg. Sie werden kein Pardon geben.»