Bolitho blickte entschuldigend auf seine schmutzigen Strümpfe und Schuhe.»Tut mir leid, Sir, aber ich dachte, Sie hätten befohlen…»
Palliser schaute schon woanders hin; er beobachtete einige Leute, die auf dem Vorschiff arbeiteten.»Ich hatte Ihnen befohlen, zwanzig Mann zu bringen. Hätte ich sechs Mann verlangt, wie viele hätten Sie dann wohl gebracht? Zwei? Überhaupt keinen?«Überraschenderweise lächelte er plötzlich.»Sechs, das ist schon ausgezeichnet. Nun aber ab zum Kommandanten. Es gibt Schweinepastete zu Mittag, also beeilen Sie sich, sonst ist nachher nichts übrig. «Er wandte sich energisch um und rief:»Mr. Slade, was machen diese Faulpelze da eigentlich? Verdammt noch mal!»
Bolitho eilte leicht benommen den Niedergang hinunter und durchs Achterschiff. Gesichter wurden im Halblicht zwischen den Decks undeutlich sichtbar, Gespräche verstummten, als er vorbeihastete. Der neue Offizier geht zum Kommandanten. Wie mag er sein?
Zu lasch — oder zu hart?
Ein Seesoldat stand, Muskete bei Fuß, als Ehrenposten vor der Kajüte. Sein Oberkörper schwankte leicht im Rhythmus des an seiner Ankertrosse zerrenden Schiffes. Seine Augen funkelten im Lichtschein der Laterne, die an einem Decksbalken über ihm hin und her schaukelte. Sie brannte Tag und Nacht, wenn der Kommandant an Bord war.
Bolitho bemühte sich, wenigstens sein Halstuch etwas zurechtzu-zupfen und die rebellische Haartolle aus dem Gesicht zu streichen. Der Posten gab ihm dazu genau fünf Sekunden Zeit, dann stieß er kurz mit der Muskete aufs Deck.»Der Dritte Offizier, Sir!»
Der Türvorhang öffnete sich, und ein struppiger Mann in schwarzer Jacke, wahrscheinlich der Schreiber des Kommandanten, warf einen ungeduldigen, auffordernden Blick heraus: wie ein Lehrer, der einen zu spät kommenden Schüler hereinruft.
Bolitho preßte seinen Hut fester unter den Arm und betrat die Kajüte. Im Vergleich zum übrigen Schiff war sie geräumig. Ein zweiter Vorhang trennte den hintersten Teil vom Speiseraum und der danebenliegenden Schlafkammer. Die schrägen Heckfenster, welche die ganze Breite des Achterschiffs einnahmen, leuchteten warm in der Sonne, während Decksbalken und Möbelstücke in dem vom Wasser reflektierten Licht schimmerten.
Kapitän Henry Vere Dumaresq hatte offenbar an einem Fenster gestanden und aufs Wasser hinuntergeschaut: er drehte sich ungewöhnlich behende um, als Bolitho den Raum betrat.
Bolitho bemühte sich, ruhig und entspannt zu wirken, aber es gelang ihm nicht. Solch einen Menschen wie den Kommandanten hatte er noch nie gesehen. Sein Körper war breit und untersetzt, und der Kopf saß so dicht auf den Schultern, als hätte er keinen Hals; er wirkte genau wie der übrige Mann: mächtig. Alles an Dumaresq machte den Eindruck ungewöhnlicher Kraft. Little hatte gesagt, der Kommandant sei erst achtundzwanzig, aber er sah so alterslos aus, als ob er sich nie verändert hätte und nie verändern würde.
Er ging Bolitho entgegen, um ihn zu begrüßen, und setzte dabei die Füße wie mit bewußt gebändigter Kraft auf. Bolithos Blick fiel auf seine Beine, die durch teure weiße Strümpfe auffielen. Die Waden schienen so dick zu sein wie anderer Leute Oberschenkel.
«Sie sehen etwas ramponiert aus, Mr. Bolitho. «Dumaresq hatte eine tiefe, wohlklingende Stimme, mit der er bei Sturm an Deck sicher gut durchdrang; doch Bolitho vermutete, daß sie auch Wärme und Sympathie ausdrücken konnte.
Er sagte verlegen:»Aye, Sir. Ich habe. Ich war mit dem Rekrutierungskommando unterwegs.»
Dumaresq wies mit dem Kopf auf einen Stuhl.»Setzen Sie sich. «Er hob die Stimme:»Rotwein!»
Fast augenblicklich erschien ein Steward und goß Wein in zwei schön geschliffene Gläser. Danach zog er sich genauso unauffällig zurück.
Dumaresq setzte sich — kaum einen Meter entfernt — Bolitho gegenüber. Sein Auftreten und seine Energie wirkten einschüchternd. Bo-litho verglich ihn mit seinem letzten Kommandanten. Auf dem riesigen Vierundsiebzig-Kanonen-Schiff war der Kommandant immer ungeheuer weit weg gewesen, fern vom Geschehen in Offiziersmesse und Kadettenlogis. Nur in kritischen Lagen oder bei zeremoniellen Anlässen hatte er seine Anwesenheit spüren lassen, blieb aber auch dann immer auf Distanz.
Dumaresq sagte:»Mein Vater hatte die Ehre, vor einigen Jahren unter dem Ihren dienen zu dürfen. Wie geht es ihm?»
Bolitho dachte an Mutter und Schwester in dem alten Haus in Fal-mouth: wie sie auf die Heimkehr von Kapitän James Bolitho warteten; wie seine Mutter die Tage zählte und vielleicht auch davor bangte, daß er sich sehr verändert hatte. James Bolitho hatte in Indien einen Arm verloren, und als sein Schiff außer Dienst gestellt wurde, hatte man ihn auf unbestimmte Zeit auf die Reserveliste gesetzt.
Bolitho sagte:»Er müßte jetzt wieder zu Hause sein, Sir. Aber da er einen Arm verloren hat und damit die Aussicht, im Dienst des Königs zu bleiben, weiß ich nicht, wie es mit ihm weitergehen wird. «Er brach ab, erschrocken darüber, daß er seine Gedanken offen ausgesprochen hatte.
Aber Dumaresq deutete nur auf das Glas.»Trinken Sie, Mr. Bolitho, und sprechen Sie sich aus. Mir ist wichtiger, daß ich erfahre, was Sie denken, als daß Sie über meine Reaktion nachdenken. «Der Satz schien ihn selber zu belustigen.»Es geht uns allen ähnlich. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, daß wir dies hier haben. «Sein großer Kopf drehte sich nach links und rechts, als er die Blicke durch die Kajüte schweifen ließ. Er sprach vom Schiff, von seinem Schiff, das er offenbar mehr als alles andere liebte.
Bolitho sagte:»Ein schönes Schiff, Sir. Es ist eine Auszeichnung für mich, hierher kommandiert worden zu sein.»
«Ja.»
Dumaresq beugte sich vor, um die Gläser neu zu füllen. Wieder bewegte er sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit und setzte seine Kräfte wie seine Stimme nur sparsam ein.
Er sagte:»Ich habe von Ihrem großen Kummer gehört. «Er hob eine Hand.»Nein, nicht von jemandem an Bord. Ich habe eigene Quellen, denn ich will meine Offiziere ebensogut kennen wie mein Schiff. Wir werden in Kürze auf eine Reise gehen, die eine Menge einbringen, aber auch nutzlos ausgehen kann. Auf jeden Fall wird sie nicht leicht. Wir müssen alle traurigen Erinnerungen hinter uns lassen, ohne sie deswegen zu vergessen. Dies ist ein kleines Schiff, jeder Mann an Bord muß seinen Platz voll ausfüllen. Sie haben unter einigen hervorragenden Kommandanten gedient und dabei sicherlich viel gelernt. Doch auf einer Fregatte ist manches anders. Hier gibt es nur wenige Leute, die sich nicht voll einsetzen müssen, und ein Offizier gehört bestimmt nicht zu ihnen. Sie werden anfangs vielleicht Fehler machen, die werde ich milde beurteilen; aber wenn Sie Ihre Autorität mißbrauchen, werde ich gnadenlos dazwischenfahren. Vermeiden Sie es, bestimmte Leute zu bevorzugen, denn die würden Sie eines Tages ausnutzen.»
Er lachte in sich hinein, als er Bolithos ernstes Gesicht sah.»Leutnant zu sein ist schwerer, als es zu werden. Denken Sie immer daran: Die Leute schauen auf Sie, wenn Schwierigkeiten auftreten; Sie müssen dann so handeln, wie es Ihnen richtig scheint. Ihr bisheriges Leben hat in dem Augenblick aufgehört, als Sie das Kadettenlogis verließen. Auf einem kleinen Schiff ist kein Platz für Einzelgänger mit Anpassungsschwierigkeiten. Sie müssen ein Teil des Ganzen werden, verstehen Sie?»
Bolitho saß wie gebannt auf seiner Stuhlkante. Dieser seltsame Mann hielt ihn mit dem zwingenden Blick seiner weit auseinanderstehenden Augen wie in einem Schraubstock gefangen.
Bolitho nickte.»Ja, Sir, ich verstehe.»
Dumaresqs Blick entspannte sich, als vorn im Schiff die Glocke zweimal angeschlagen wurde.
«Gehen Sie jetzt zum Essen. Ich bin sicher, daß Sie Hunger haben. Mr. Pallisers schlaue Methoden, zu neuen Leuten zu kommen, produzieren gewöhnlich Appetit, wenn schon nicht mehr.»
Als Bolitho aufstand, fügte Dumaresq ruhig hinzu:»Diese Reise ist für viele Leute sehr wichtig. Unsere Kadetten haben meist einflußreiche Eltern, die wünschen, daß ihre Sprößlinge sich auszeichnen und vorwärtskommen — in einer Zeit, da der größte Teil der Flotte aufgelegt ist und langsam vermodert. Unsere Fachkräfte, die Deckoffiziere, sind ausgezeichnet, und wir haben einen guten Stamm erstklassiger Seeleute. Die Neuen müssen sich anstrengen, da mitzuhalten. Ein letzter Punkt, Mr. Bolitho, und ich hoffe, mich hierin nicht wiederholen zu müssen: Auf der Destiny steht Loyalität obenan. Loyalität mir gegenüber, Treue zum Schiff und zu Seiner Britischen Majestät. In dieser Reihenfolge!»