»Vielleicht ist sie nicht so unschuldig an dem, was geschehen ist, wie sie tut!«
»Du bist ungerecht, Vater! Du bist doch gar nicht dabei gewesen!«
»Ist schon gut, Adam«, sagte Urilla, den Tränen nah, mit erstickter Stimme. »Es hat doch alles keinen Sinn. Ich werde gehen.«
Sie wandte sich um und drängte sich durch den dichten Kreis der Auswanderer.
Adam rief ihr nach: »Warte, ich werde dich begleiten, Urilla. Aber ich hole lieber meine Waffen, solange diese Burschen in der Stadt sind.«
Er schüttelte die Hand seines Vater ab, die ihn zurückhalten wollte, kletterte in den Conestoga-Wagen, und kam kurz darauf mit einem Gewehr zurück. An seiner Hüfte hing ein Holster mit einem großkalibrigen Revolver.
Als er und Urilla das Lager verließen, blickten ihm sein Vater und Martin lange nach. Beide aus unterschiedlichen Gründen, aber beide mit düsterer Miene.
*
Nicht nur die Mienen von Abner Zachary und Martin hatten sich verdüstert; im ganzen Lager herrschte eine gedrückte Stimmung. Nach außen schien es, als gingen die Auswanderer ihrem gewohnten Tagesablauf nach, kümmerten sich um ihr Vieh oder nahmen letzte Ausbesserungen an den Wagen vor, die für viele Monate ihr einziges Heim sein würden. Aber wer genau hinsah, konnte die Anspannung auf den Gesichtern der Männer und Frauen erkennen. Nur die kleinen Kinder, die noch nicht begriffen, was vor sich ging, wurden nicht von ihr ergriffen. Die Emigranten waren nicht konzentriert bei der Sache, sahen immer wieder von ihrer Arbeit auf, um den beiden Sklavenjägern am Stadtrand skeptische, fragende Blicke zuzuwerfen.
Es dauerte keine Stunde, bis Everett Stanton zurückkehrte, in seiner Begleitung zwei Reiter, auf deren Kleidung silberne Sterne prangte. Brad Folsom und Big Hatch schlossen sich den dreien an, als sie in das Lager ritten. Auf den Gesichtern der Sklavenjäger zeichnete sich große Zufriedenheit ab.
Sofort stellten die Auswanderer ihre Arbeiten ein, kamen in der Lagermitte zusammen und bildeten dort ein Spalier, durch das die fünf Reiter mußten. Abner Zachary erwartete sie mit seinen beiden Söhnen Aaron und Andrew am Ende der Gasse. Der Prediger mit einem starren Gesicht wie Granit wirkte ruhig und gelassen. Er war unbewaffnet, im Gegensatz zu vielen seiner Leute, die entweder ihre Gewehre oder ihre Arbeitswerkzeuge, wie Äxte oder Bowiemesser, in den Händen hielten.
Der ältere der beiden Sternreiter stellte sich als Bowden Webb vor, Marshal von Kansas City. Er war ein großer, kräftiger Mann Ende der Vierzig, dessen breites Gesicht von einem dichten Schnurrbart beherrscht wurde. Sein silbernes Abzeichen steckte auf der Weste seines dunklen Dreiteilers. Begleitet wurde er von einem Deputy Marshal namens Grant Begley, einem im Vergleich zu seinem Boß eher schmächtig wirkenden Burschen in den Dreißigern, der einen zerknitterten grauen Anzug trug.
Abner Zachary nannte den Ordnungshütern, nachdem sie sich vorgestellt hatten, seinen Namen und fragte, was er für sie tun könnte.
»Für uns gar nichts«, antwortete der City Marshal im sachlichen Ton. »Aber für die drei Gents an unserer Seite. Wie mir Mr. Stanton berichtete, hindern sie ihn bei der Suche nach einem entlaufenen Sklaven.«
»Wir haben hier nichts übrig für die Sklaverei und auch nichts für Sklavenjäger«, machte der Prediger dem Marshal unmißverständlich seinen Standpunkt klar.
»Nun, ich halte auch nichts von der Sklaverei. Und ich würde mein Geld niemals damit verdienen, Menschen in die Sklaverei zurückzubringen. Aber als Marshal von Kansas City bin ich verpflichtet, die Gesetzte zu wahren. Und die geben Mr. Stanton recht - leider.«
»Hier im Lager bin ich der Captain«, entgegnete Abner Zachary mit leichtem Donnergrollen in der Stimme. »Und Gesetz ist, was ich sage!«
»Das mag für Ihre Leute stimmen«, sagte Webb in seiner sachlichen Art. »Aber Ihr Lager befindet sich auf einem Gebiet, das zu unserer Stadt gehört. Und solange das der Fall ist, bin ich berechtigt und verpflichtet, hier für die Durchsetzung des Rechts zu sorgen.«
»Mit anderen Worten, wir sollen dulden, daß diese Kerle unsere Wagen durchsuchen.«
»Nicht alle Wagen, Mr. Zachary. Soweit ich Mr. Stanton verstanden habe, geht es ihm besonders um einen bestimmten Wagen.«
Zacharys steinernes Gesicht geriet in Bewegung, als sich dort Überraschung abzeichnete.
»Für welchen Wagen?«
Marshal Webb sah Stanton an.
»Um den Wagen von Sam Kelley«, sagte der Anführer der Sklavenjäger.
Der Prediger wirkte noch überraschter.
»Sie vermuten den entflohenen Sklaven in Sam Kelleys Wagen? Warum?«
»Weil Jackson Harris der Bruder von Sam Kelleys Frau ist.«
Nach dieser Erklärung Stantons herrschte für eine Minute überraschte Stille im Lager, die von erregtem Gemurmel abgelöst wurde. Auf diese Nachricht schien niemand vorbereitet gewesen zu sein.
Fast niemand.
Aller Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf den schwarzen Schmied und seine Familie. Sam, Aretha und George standen bei ihrem Wagen, unter dem Sams andere Kinder, die zehnjährige Sadie und der sechsjährige Morgan hockten und, unbeeindruckt von den Problemen der Erwachsenen, miteinander spielten.
Auch Abner Zachary war von Stantons Eröffnung überrascht worden. Doch er ging mit keinem Wort darauf ein, sondern marschierte zielstrebig auf den schweren Wagen der Kelleys zu. Vor ihm, seinen Söhnen, den Ordnungshütern und den Sklavenjägern flutete die Menschenmenge auseinander, schloß sich dahinter wieder und bildete eine lange Prozession. Bald umlagerte die Menge den Kelley-Wagen.
»Ist das wahr, Bruder Sam?« fragte Abner den dunkelhäutigen Schmied, vor dem er stehengeblieben war und dem er jetzt tief in die Augen sah. »Ist der entflohene Sklave Jackson Harris der Bruder deiner Frau?«
»Ja«, antwortete Kelley leise.
»Warum hast du das nicht gesagt?«
»Niemand hat mich danach gefragt.«
»Das stimmt.« Zachary nickte einverständlich. Dann erhob er seine Stimme und fragte: »Hältst du den Bruder deiner Frau bei dir versteckt?«
Waren vorher schon aller Augen auf Sam Kelley gerichtet gewesen, so hingen sie jetzt geradezu gebannt an seinen Lippen. Der Schmied schaute in die Runde, ließ seinen Blick erst bei Stanton und seinen Begleitern verweilen, dann auf seiner Frau und sah schließlich wieder den Führer des Trecks an.
»Nein, Captain«, sagte er mit fester Stimme. »Ich verstecke ihn nicht.«
Der Prediger sah zufrieden aus und drehte sich zu den Reitern um.
»Sie haben es gehört, Marshal. Sam Kelleys Wort genügt mir, Ihnen hoffentlich auch.«
»Mir schon. Aber wahrscheinlich Mr. Stanton nicht.«
Ein Lächeln huschte über Stantons gut geschnittenes Gesicht.
»In der Tat nicht, Marshal. Ich würde mich, mit Ihrer Erlaubnis, gern selbst überzeugen.«
Marshal Webb sah den Prediger an.
»Wie sieht es damit aus, Mr. Zachary?«
»Die Kerle sollen tun, was sie nicht lassen können. Aber sie sollen sich dabei ordentlich benehmen!«
»Das werden sie«, versprach der Marshal.
Die Sklavenjäger stiegen von ihren Pferden, deren Zügel Deputy Begley hielt. Vielleicht spürten die drei unerwünschten Männer die zornigen, teilweise haßerfüllten Blicke der Auswanderer, aber sie scherten sich nicht darum, kletterten auf den Kelley-Wagen und begannen mit der Durchsuchung.
Auch die Blicke der Kelleys hingen an den Männern, die ihr Hab und Gut durchwühlten.
Jacob, der mit Martin und Irene in ihrer Nähe stand, versuchte zu ergründen, was auf den Gesichtern von Sam und Aretha vorging. War es Furcht, Empörung, Zorn? Er konnte es nicht sagen.
Es dauerte fast fünf Minuten, bis sich die drei Sklavenjäger damit zufrieden geben mußten, nichts gefunden zu haben. Enttäuschung stand auf ihren Gesichtern, als sie aus dem Prärieschoner kletterten.
»Das war es dann wohl«, meinte Abner Zachary abschätzig zu Stanton.