»Ein schöner Gedanke«, meinte Sam Kelley und sah seinen Sohn an. »Aber es wird nicht gehen.«
»Wieso nicht?« fragte der Prediger.
»Weil der Rappe zweihundert Dollar kostet.«
»Oh«, machte Abner Zachary nur.
Soviel Geld hatte niemand mehr im Lager. Höchstens vielleicht der Ire O'Rourke, aber den brauchte man gar nicht erst zu fragen.
»Dann verpfänden wir eben unseren Wagen und unsere Tiere für das Geld«, schlug Aretha Kelley vor.
Der Schmied sah seine Frau zweifelnd an.
»Und was machen wir, wenn George das Rennen nicht gewinnt?«
»Dann findet der Zug ins Gelobte Land ohne uns statt. Für einen guten Schmied wird man auch in Kansas City Verwendung haben.« Aretha legte ihre Hände auf die Schultern ihres Mannes. »Und du bist ein guter Schmied, Sam. Außerdem vertraue ich unserem Sohn. Du weißt, daß sich kaum einer so gut mit Pferden auskennt wie er.«
»Also gut, wir tun es«, entschied Sam. »Das sind wir unseren Freunden hier schuldig.«
Sie fanden eine Bank, die Ihnen zweihundert Dollar für ihren Wagen und ihr Vieh lieh. Sollten die Kelleys das Geld nicht bis zur Abreise des Trecks mit zwanzig Prozent Zinsen zurückzahlen, würde das Pfand in den Besitz der Bank übergehen.
Dann wurde das Pferd gekauft. George machte sich mit dem Rappen, den er wegen seiner Farbe und seines Temperaments »Black Thunder« taufte, schnell vertraut und begann mit dem Training. An diesem Tag arbeitete niemand mehr im Lager. Alle sahen gespannt zu, wie der Junge das Pferd ritt, immer schneller und rasanter.
Das Rennen sollte am morgigen Nachmittag stattfinden. George Kelley hatte weniger als einen Tag, um der schnellste Reiter von Kansas City zu werden.
*
Jacob ging früh am nächsten Morgen hinaus zu der Übungsstrecke, auf der George Kelley schon wieder sein neues Pferd ritt. Sie führte vom Rand des Lagers zu einer kleinen, kaum als Wald zu bezeichnenden Anhäufung mehrerer dürrer Bäume im Norden, von da in westlicher Richtung bis zu einem klobigen Doppelfelsen und dann wieder zurück zum Treck. Eine Strecke von ungefähr fünf Meilen, was in etwa der Rennstrecke entsprach.
Martin gesellte sich zu seinem Freund und rief dem gerade losreitenden George zu, er solle Black Thunder nicht überanstrengen.
»Keine Angst, Mr. Bauer, das ist der letzte Proberitt. Ich denke, schneller kann Black Thunder nicht werden.«
»Hauptsache, Silver Dollar ist nicht schneller«, rief Martin dem davonpreschenden Jungen nach.
Jacob musterte seinen Freund, der seine Mütze nicht aufgesetzt hatte. Sein rotblondes Haar war zerzaust. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Aber da war noch etwas, neben dem linken Auge, eine blaugrüne Verfärbung.
»Hast du eins aufs Auge bekommen?« fragte Jacob.
»Ja, gestern abend in der Stadt. Es gab eine Rauferei.«
»Du warst ziemlich lange weg.«
»Ja«, antwortete Martin ungewohnt einsilbig.
»Wo warst du?«
»Im Saloon.«
Jacobs Augen leuchteten interessiert auf.
»Etwa im Lightheart Palace?«
»Ja.«
»Hast du dich um Miß Anderson geprügelt?«
Martin schüttelte den Kopf.
»Ich habe mich gar nicht geprügelt. Ich bin nur in eine Schlägerei reingeraten. Deshalb bin ich gegangen.«
»Gibt es etwas Neues von Miß Anderson?«
»Ich habe keine fünf Worte mir ihr gewechselt«, sagte Martin, dessen Stimme und Gesichtsausdruck seine Enttäuschung darüber verrieten. »Und mehr werden es auch wohl nicht werden. Morgen geht es nach Oregon.«
Weitere Auswanderer, die sich für George Kelleys Proberitt interessierten, traten zu ihnen, darunter auch Abner und Aaron Zachary.
Der alte Zachary erkundigten sich bei den Deutschen, ob sie seinen Sohn Adam gesehen hätten. »Er scheint letzte Nacht nicht ins Lager zurückgekommen zu sein.«
»Er war im Lightheart Palace«, berichtete Martin.
»Etwa bei dieser, bei Miß Anderson?«
»Sie haben viel miteinander gesprochen.«
»Lange?«
»Als ich ging, war Ihr Sohn noch da. Und ich ging spät, so gegen Mitternacht.«
Weiter konnten sie sich nicht unterhalten, weil ein Mann auf einem Buckskin auf sie zuritt. Sie erkannten Marshal Webbs Stellvertreter vom Vortag, Grant Begley.
Er zügelte sein Pferd dicht vor ihnen und sagte erregt zu dem Prediger: »Mr. Zachary, Marshal Webb bittet Sie dringend, mich sofort in die Stadt zu begleiten!«
»Worum geht's denn?« fragte der Prediger, verwundert wie alle anderen.
»Kommen Sie lieber mit!«
Zachary nickte.
»Also gut.«
Der Deputy Marshal zog etwas aus einer Satteltasche und hielt es hoch. Es war eine abgetragene, speckige Mütze.
»Weiß jemand, wem die Mütze gehört?«
»Sie gehört mir«, sagte Martin. »Ich habe sie gestern im Lightheart Palace verloren.«
Begley musterte ihn mit einem düsteren Blick, meinte dann aber nur: »Dann kommen Sie besser auch mit!«
Er gab dem Deutschen seine Mütze nicht, sondern steckte sie wieder in die Satteltasche.
Schließlich folgten Martin, Jacob, Abner Zachary und sein Sohn Aaron dem Deputy in die Stadt. Sie gingen zu Fuß, und Begley stieg von seinem Buckskin.
Auf die drängenden Fragen seiner Begleiter schwieg er beharrlich und sagte nur immer wieder: »Der Marshal wird Ihnen alles erzählen.«
Begley führte die kleine Gruppe zum mächtigen Gebäudekomplex des Trading Centers und dort in den großen Innenhof, wo sich inzwischen eine beträchtliche Menschenmenge versammelt hatte. Die erregten Menschen musterten die Neuankömmlinge mit neugierigen bis mißtrauischen Blicken.
»Wo ist der Marshal?« fragte Begley einen anderen Deputy.
»Im Saloon. Er spricht mit Frenchie.«
Frenchie war der Spitzname von Francois Lacrois, dem französischstämmigen Salooner. Webb saß mit ihm an einem Tisch und schaufelte von einem Blechteller einen Haufen Eier mit Speck in sich hinein, während er dem kleinen breitschultrigen Franzosen hin und wieder Fragen stellte, die dieser wort- und gestenreich beantwortete. Der Polizeichef von Kansas City spülte sein Frühstück mit großen Schlucken aus einer blechernen Kaffeetasse hinunter.
Als der Marshal Begley und seine Begleiter erkannte, schob er den Teller von sich, tupfte seinen Mund mit einem rotblau gemusterten Taschentuch ab, erhob sich und ging ihnen entgegen.
»Haben Sie Mr. Zachary schon gesagt, um was es geht, Grant?«
»Nein, Marshal. Ich dachte, das tun Sie lieber selbst.«
»Das muß ich wohl«, meinte Webb mit finsterer Miene und winkte den anderen, ihm zu folgen, während er den Saloon verließ und eine enge Gasse neben dem Saloongebäude ansteuerte.
Der Eingang zu dieser Gasse wurde von einem Deputy bewacht, der niemanden durchließ außer dem Marshal und seinen Begleitern. In der dunklen Gasse stank es nach Abfällen und Unrat. Ein paar eiserne Treppen rankten sich von hier an den steinernen Außenwänden der benachbarten Gebäude empor und führten zu Wohnungen, in denen Angestellte des Trading Centers lebten.
Sie mußten nicht weit gehen, bis ihnen etwas Großes, das auf dem Boden lag, den Weg versperrte. Es war der Körper eines Mannes, groß gebaut mit breiten Schultern, jetzt aber seltsam verrenkt. Er lag auf der Seite. Unter seinem Oberkörper hatte sich ein großer dunkler Fleck auf dem staubigen Boden gebildet. Wie auch auf seiner Brust. Hier erkannte man die rote Färbung des Blutes, das aus einem Loch dicht bei seinem Herzen ausgetreten war. Die Augen in dem glatten Gesicht des dunkelhaarigen Mannes blickten starr in eine imaginäre Ferne; vielleicht sahen sie das Gelobte Land, wo immer es auch liegen mochte.
»Adam!« schrie Abner Zachary auf, fiel neben seinem toten Sohn auf die Knie und rüttelte an seinem Oberkörper, als könnte er ihn damit aus seinem tiefen Schlaf erwecken. »Adam, antworte mir! So sag doch etwas, mein Sohn!«