Martin hatte ihm stets treu zur Seite gestanden und niemals auch nur die Anzeichen eines schlechten Charakters offenbart. Es war fast ein Verrat, ihn als Mörder auch nur in Erwägung zu ziehen.
Es mußte eine andere Erklärung dafür geben, daß man Martins Mütze bei der Leiche gefunden hatte. Vielleicht ein Komplott wie das, was man in Deutschland gegen Jacob geschmiedet hatte, indem ihn Bertram Arning des versuchten Mordes bezichtigte.
Dabei hatte Jacob den Sohn des Bierkönigs Conrad Arning in einem Pistolenduell verletzt, zu dem der junge Arning ihn herausgefordert hatte. Aber das Wort des reichen Bierbrauersohns Bertram Arning galt mehr als das des armen Zimmermanns Jacob Adler.
Ein Komplott ähnlich wie das auf dem Flußdampfer ONTARIO, auf dem Jacob und seine Freunde den Ohio hinuntergefahren waren. Damals hatte eine Südstaatenspionin versucht, Jacob und Martin den von ihr verübten Doppelmord an zwei Matrosen anzuhängen.
Auf der Straße vor dem Gefängnis aufbrandender Lärm riß Jacob aus seinen Gedanken. Es waren laute Stimmen, die etwas skandierten. Bald erkannte es Jacob. Sie forderten die Herausgabe von Martin - um ihn aufzuhängen.
Sein Freund hinter den mehr als fingerdicken Gitterstäben wurde noch blasser, als er es in den letzten Minuten ohnehin schon geworden war.
»Ich sehe mal nach«, versprach ihm Jacob und folgte dem Marshal und seinem Deputy Begley, die vor die Tür getreten waren.
Auf der Straße hatte sich eine Meute von etwa dreißig bis vierzig Männern versammelt, die ihre Stimmen anhoben, als sie den Marshal und seine Begleiter erblickten. Es waren durchweg Gesichter, die Jacob kannte. Sie gehörten Männern aus dem Treck. Angeführt wurde der Mob von Abner Zachary und den beiden ihm verbliebenen Söhnen. Der Prediger hatte einen dicken Hanfstrick in der Hand und hielt ihn hoch.
»Geben Sie den Mörder meines Sohns heraus, Marshal!« schrie er mit seiner mächtigen, dröhnenden Stimme. »Wir werden ihn selbst richten!«
»Um Recht zu sprechen und durchzusetzen, dafür sind die Gerichte da, Mr. Zachary«, belehrte ihn Webb.
»Wir halten uns an Gottes Gesetz!«
»Hat Gott gesagt, man darf einfach so Menschen aufhängen?«
»Wissen Sie nicht, was in der Heiligen Schrift steht, Webb? Auge um Auge, Zahn um Zahn!«
»Selbst wenn das wahr wäre, so müßte Mr. Bauers Schuld erst einmal erwiesen sein, bevor er bestraft wird.«
»Das ist sie doch!« fuhr Aaron Zachary den Marshal an. »Alles spricht gegen den Deutschen!«
»Sollte man ihm nicht wenigstens Gelegenheit geben, etwas anzuführen, das für ihn spricht? In einer ordentlichen Gerichtsverhandlung?«
»Das dauert viel zu lange«, widersprach Aaron. »Wir brechen morgen nach Oregon auf. Wir wollen sehen, wie der Mörder meines Bruders bestraft wird. Er soll hängen!«
Er stürmte nach vorn und wollte auf den Vorbau klettern, auf dem Webb, Begley und Jacob standen. Ein paar der aufgebrachten Männer folgten ihm.
Der schwarzglänzende 44er flog in Webbs Faust, und die Mündung zielte auf Aaron.
»Zwingen Sie mich nicht zu schießen!« sagte der Marshal mit viel mehr Härte als zuvor. »Ich würde es nämlich tun!«
Auch Begley und Jacob zogen ihre Waffen und brachten damit das Vorrücken des Mobs zum Stillstand.
»Sie würden auf unschuldige Menschen schießen, um einen Mörder zu verteidigen?« fragte Abner Zachary den Marshal.
»Daß Mr. Bauer ein Mörder ist, ist noch nicht bewiesen. Wenn Sie ihn einfach so hängen, sind Sie die Mörder! Gedulden Sie sich doch etwas. Vielleicht finden sich heute noch Anhaltspunkte, die Mr. Bauer entlasten. Schließlich ist er einer Ihrer Leute!«
»Das steht nicht fest«, sagte der Prediger hart. »Er ist noch nicht lange bei uns. Ob er zu uns gehört, halte ich für sehr fraglich nach dem, was ich jetzt weiß.« Er sah auf den Strick in seiner Hand, auf seine beiden Söhne und auf die Waffen in den Händen der drei Männer auf dem Vorbau. »Also gut, Marshal. Ich gebe Ihnen einen Tag Zeit. Aber wenn sich Bauers Unschuld bis morgen früh nicht erwiesen hat, kommen wir zurück!«
*
Jacob verließ das Gefängnis erst, als ihm Marshal Webb versprochen hatte, für Martins Sicherheit zu sorgen. Mehrere Bewaffnete sollten ständig auf Wache sein. Wenn Jacob einem Mann in Kansas City zutraute, daß er Martin vor einem Lynchmord bewahrte, war das der Marshal, der sich als ebenso aufrichtig wie couragiert erwiesen hatte. Fast schien Webb selbst nicht so ganz an Martins Schuld zu glauben. Aber bei der Lage der Dinge blieb ihm gar nichts anderes übrig.
Vom Gefängnis ging Jacob eiligen Schrittes zurück zum Treck. Er machte sich Sorgen um Irene und Jamie, weil er befürchtete, daß die aufgebrachten Aussiedler ihren Zorn an ihnen auslassen könnten. Das bunte Treiben in der Stadt, wo eifrige Vorbereitungen für das heutige Pferderennen und das große Volksfest am nächsten Tag getroffen wurden, nahm er kaum wahr.
Als er am Stadtrand in das Gewirr aus Planwagen und Zelten eintauchte, wurde er von feindseligen Blicken geradezu durchbohrt. Als Freund des Mannes, den alle für den Mörder von Adam Zachary hielten, hatte er kaum Sympathien zu erwarten. Schließlich war Abner Zachary der Wohltäter vieler Menschen hier, wie Jacob gestern von Ben Miller erfahren hatte. Außerdem hatte sich herumgesprochen, daß Jacob vor dem Gefängnis seinen Revolver auf die lynchwütigen Emigranten gerichtet hatte.
Ohne sich weiter um die Blicke und das Getuschel der Menschen zu kümmern, steuerte Jacob zielstrebig den Platz an, wo sein Wagen stand. Als er sah, daß Irene und Jamie nichts geschehen war, atmete er auf. Sie waren nicht seine Familie, aber er fühlte für sie fast so, wie er für seine eigene Frau und sein Kind gefühlt hätte.
Ein paar der besonneneren Auswanderer, darunter die Kelleys und die Millers, kümmerten sich um Irene und Jamie und sorgten dafür, daß sie von den anderen in Ruhe gelassen wurden. Irene und die befreundeten Familien bestürmten Jacob mit tausend Fragen über Martin und den Mord.
Jacob antwortete sehr knapp und kehrte dann in die Stadt zurück. Ein Blick in Abner Zacharys Granitgesicht hatte ihm gezeigt, daß der Prediger noch immer von Rachsucht regiert wurde. Falls Zachary seine Drohung wahrmachen wollte, blieb Jacob nur ein Tag, um Martin zu helfen. Ein einziger Tag, um den wahren Mörder zu finden.
*
Jacobs Ziel war der Lightheart Palace. Hier hatte sich der Mord ereignet. Hier hatten das Opfer und der angebliche Mörder den letzten Abend verbracht. Hier lebte und arbeitete Urilla Anderson, die Frau, die der Anlaß für den Mord sein sollte. Hier hoffte Jacob Antworten auf die Fragen zu finden, die in ihm bohrten.
Er fand den Saloon für die frühe Tageszeit - es war noch lange hin bis Mittag - gut besucht vor. Das mochte zum einen mit dem bevorstehenden Pferderennen zusammenhängen. Sicher war aber der Mord der Hauptgrund für den großen Andrang. Neugier und Sensationslust trieben die Menschen herbei und bescherten Frenchie ein gutes Geschäft.
Dem Salooner, der hinter der langen, sich fast den ganzen in die Tiefe führenden Raum entlangziehenden Mahagonitheke stand, kam mit dem Einschenken der Getränke kaum nach. Die Fliege unter seinem spitzen Kinn war verrutscht, der weiße Hemdkragen von Schweißflecken beschmiert und die weiße Schürze ebenfalls befleckt.
Als Jacob ins Halbdunkel des großen Raums trat, lenkte er sofort die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die Männer links an der Bar drehten sich um und sahen ihn neugierig an. Ihre erregten Gespräche verstummten. Es war plötzlich so still, daß man hörte, wie Jacobs Stiefel auf dem feinen Sand knirschten, der den Boden bedeckte, damit er leichter gereinigt werden konnte.
Jacob steuerte auf eine Lücke in der langen Menschenreihe vor der Theke zu, schob sich, die vielen Blicke mißachtend, hindurch und winkte Frenchie zu sich heran, um ihn nach Urilla zu fragen.