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Unter anderen Umständen hätte Jacob den Trubel genossen, hätte freudig mitgefeiert im Gedanken an den ersten Unabhängigkeitstag, den er in seiner neuen Heimat erlebte. Aber nichts lag ihm jetzt so fern wie Feiern. Noch nie seit seiner Ankunft im Hafen von New York war seine Stimmung so gedrückt gewesen. Tausend Fragen drehten sich in seinem Kopf. Wann immer er eine Antwort fand, warf sie neue Fragen auf und vergrößerte seine Verwirrung nur noch.

Urilla Andersen war zu seiner großen Enttäuschung keine Hilfe gewesen. Sie hatte sich geweigert, mit ihm zu reden, hatte ihn nicht einmal ins Zimmer gelassen. Sie hatte nur kurz durch die verschlossene Tür mit ihm gesprochen, mit tränenerstickter Stimme. Er verstand ihren Schmerz um Adam Zachary, was immer sie für ihn empfunden haben mochte; nachdem er von ihrem Verhältnis mit Alan Clayton erfahren hatte, war er sich da nicht mehr so sicher. Aber um Martin beizustehen, benötigte er jede Hilfe, die er bekommen konnte. Leider bekam er keine.

Er wußte selbst nicht so recht, was ihn jetzt zu dem Pferderennen trieb. Ihn beschäftigten drängendere, schwerwiegendere Probleme als das Rennen. Aber da sich sowieso fast alle Menschen in der Stadt das Rennen ansehen wollten, konnte er es ihnen gleichtun. Wen immer er sprechen wollte, er würde ihn vermutlich hier finden - falls er ihn in dem bunten Gewimmel der menschlichen Ameisen entdecken konnte.

Es war purer Zufall, daß er auf Marshal Webb stieß, dem er von seiner Begegnung mit Alan Clayton erzählte.

»Sie halten Clayton für den Mörder, Mr. Adler?« vergewisserte sich der Polizeichef.

»Ich weiß nicht, ob er der Mörder ist. Aber zumindest ist er ein Verdächtiger. Er hatte denselben Grund für die Tat, den man meinem Freund unterstellt: Urilla Anderson. Nach allem, was ich über ihn gehört habe, und nach meiner persönlichen Begegnung mit ihm halte ich ihn einer solchen Tat durchaus für fähig. Sie etwa nicht?«

»Die Fähigkeit, einen Mord zu begehen, ist genauso wenig ein Beweis für die Täterschaft wie ein Mordmotiv.«

»Aber weshalb sperren Sie dann Martin ein?«

»Vergessen Sie nicht die Mütze, die wir bei der Leiche gefunden haben! Außerdem ist Ihr Freund hinter den Mauern des Gefängnisses derzeit am sichersten aufgehoben. An jedem anderen Ort der Stadt könnte ich nicht für seine Sicherheit garantieren.«

Jacob dachte an den aufgebrachten Lynchmob und gab dem Marshal recht. Das Bild von Abner Zachary, der mit dem Strick in der Hand vor dem Gefängnis stand und Martins Auslieferung verlangte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Plötzlich durchfuhr ihn ein ganz neuer Gedanke, vielleicht etwas kühn, aber nicht von der Hand zu weisen.

»Ja, das wäre möglich«, murmelte der in Gedanken versunkene Auswanderer in sich hinein, ohne zu bemerken, daß er laut sprach.

»Wovon reden Sie, Adler?«

Verwirrt sah Jacob den Marshal an.

»Ach, nichts, nur so ein Gedanke.«

»Hat dieser Gedanke mit dem Mord zu tun?«

Jacob nickte.

»Dann sollten Sie ihn mir mitteilen. Je mehr ich über die Sache weiß, desto eher kann ich die Wahrheit ans Licht bringen.«

»Es ist kein Wissen, nur eine Vermutung, die Abner Zachary betrifft. Der Prediger war nicht besonders erbaut davon, wie sehr sein Sohn Adam Miß Anderson zugeneigt war, um es einmal milde auszudrücken. Wäre das nicht ein Motiv für die Tat?«

Webb starrte den Deutschen ungläubig an.

»Sind Sie übergeschnappt, Adler? Ein Vater bringt seinen Sohn doch nicht gleich um, bloß weil er sich in das falsche Girl verliebt hat!«

»So meine ich das nicht. Urilla hat erzählt, daß Adam sie kurz nach Mitternacht verließ, weil er es eilig hatte, zum Treck zurückzukehren. Vermutlich fürchtete er eine Strafpredigt seines strengen Vaters, wenn er zu lange wegblieb. Nehmen wir einmal an, der alte Zachary war schon über Adams Wegbleiben erbost und ist in die Stadt gegangen, um ihn zu holen. Sie trafen sich vor dem Saloon und gerieten in eine Auseinandersetzung. Der angetrunkene Adam zog sein Messer, aber im Handgemenge traf es seine eigene Brust.«

Für eine halbe Minute befingerte Webb überlegend seinen Schnurrbart.

Dann nickte er bedächtig und sagte: »Das ist eine hübsche Theorie, Adler. Aber Sie haben wieder die Mütze Ihres Freundes vergessen.«

»Ich glaube Martin, daß er sie verloren hat. Vielleicht sah Abner Zachary sie irgendwo und legte sie neben die Leiche, um den Verdacht auf Martin zu lenken. Oder Adam hat sie gefunden und mitgenommen, um sie Martin wiederzugeben.«

»So könnte es sich abgespielt haben«, gab Webb zu. »Aber solange es keine Zeugen oder Beweise dafür gibt, ist es nichts als eine hübsche Theorie.« Das stimmte leider.

Abner Zachary konnte der Mörder sein. Oder Alan Clayton.

Oder jeder andere unter den vielen tausend Menschen, die jetzt die Straßen von Kansas City bevölkerten.

*

Jackson Harris störten die Menschenmassen, die zum Pferderennen in die Stadt geflutet waren, nicht. Er hatte sich solange in dem engen Kasten des Prärieschoners verstecken müssen, daß das Eingekeiltsein zwischen den ausgelassenen Menschen für ihn eine angenehme Abwechslung war. Vielleicht genoß er es auch deshalb so, weil er sich zum erstenmal in seinem Leben als freier Mensch unter freien Menschen bewegen konnte.

Manchmal zuckte er noch zusammen, wenn er den Stern eines Ordnungshüters oder die Uniform eines der vielen in Kansas City stationierten Soldaten erblickte. Dann mußte er sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, daß er sich nicht mehr verstecken mußte. Daß das Brandmal auf seinem Rücken nur noch die Erinnerung an eine dunkle Vergangenheit war. Daß er nicht mehr ein Sklave, sondern ein freier Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika war.

Dann zwang er sich geradezu, dem Deputy Marshal oder dem Soldaten in die Augen zu sehen, ganz offen, wie es ein freier Mann tun konnte. Das tat ihm gut.

Jackson hatte die Familie seines Schwagers und Black Thunder zum Startplatz des Pferderennens begleitet. Aber dann war er von der Menschenmenge abgedrängt worden und hatte sich einfach treiben lassen.

Es gab viel anzusehen und zu bestaunen an den vielen Ständen, wo man beim Loskauf sein Glück versuchen, beim Three Card Monte die Schnelligkeit seiner Augen beweisen, beim Hau-den-Lukas seine Kraft erproben oder viele leckere Speisen und Getränke erstehen konnte. Die Buden machten gute Geschäfte und würden am morgigen Tag der Unabhängigkeit noch bessere machen.

Der ehemalige Sklave enthielt sich all dieser Verlockungen. Er hatte kein Geld. Aber das störte ihn nicht. Allein der Umstand, sich frei bewegen zu können, war für ihn ein größeres Vergnügen als all die lauthals angepriesenen Attraktionen zusammengenommen.

Dann kam der große Augenblick des Pferderennens. Jackson hatte sich inzwischen so weit vom Startplatz im Norden der Stadt entfernt, daß er am Straßenrand auf eine alte Kiste steigen mußte, um zu erkennen, was am Start vor sich ging.

Ein korpulenter Mittvierziger mit cholerisch rotem Gesicht und weißem Backenbart hatte ein Podest erstiegen, genoß den aufbrandenden Applaus, nahm den grauen Zylinder vom Kopf und verneigte sich nach allen Seiten. Wie Jackson hörte, war das der Veranstalter des Rennens, Homer C. Asquith.

Als sich die Menge beruhigt hatte, begann Asquith mit einer Rede, die immer wieder die Vorzüge der vielen Geschäfte in seinem Trading Center lobte. Dann beschrieb er die Rennstrecke, die um den westlich des Missouri gelegenen Teil von Kansas City herum- und durch die breite Straße, an deren Ende der Startplatz lag, wieder zu diesem hinführen sollte. Der Start war also zugleich das Ziel der etwa fünf Meilen langen Strecke.

Die Pferde, die sich an dem Rennen beteiligten, wurden von ihren Reitern zum Start geführt. Asquith' Schimmel Silver Dollar, der von einem jungen Halbblut geritten wurde, war der eindeutige Favorit. Ähnlich gute Wetten waren nur noch auf den Palomino eines jungen Farmers abgeschlossen worden; das Tier hörte auf den Namen »Golden Sun«. Black Thunder war ein absoluter Außenseiter, auf den nur sehr wenige Wetten abgeschlossen worden waren.