Der Palomino, den nur eine Pferdelänge von Black Thunder trennte, war vielleicht noch schnell einzuholen. Das Pferd war nicht schlecht, aber der flachsblonde Farmer auf seinem Rücken holte nicht die Höchstleistung aus ihm heraus. Auch saß er viel zu gerade auf dem Tier und bot der Luft zuviel Widerstand.
Das Halbblut auf dem Schimmel stellte sich viel geschickter an, beugte sich, wie auch George, tief über den Pferdehals und gebrauchte hin und wieder die Reitgerte in seiner Rechten, um das Tier anzutreiben. Zwischen Silver Dollar und Black Thunder lagen etwa vier Pferdelängen. Asquith' Favoriten zu überholen, war das eigentliche Problem.
George beschloß, daß es allmählich an der Zeit war, den schlanken Rappen unter sich anzuspornen, wollte er das Rennen und damit die fünftausend Dollar, die die Auswanderer so gut gebrauchen konnten, noch gewinnen. Bis jetzt hatte er sein Pferd geschont, weil er es nicht zu schnell ermüden wollte. Black Thunder war pfeilschnell, aber er konnte seine Spitzengeschwindigkeit nicht über eine Strecke von fünf Meilen halten. Am liebsten hätte George mit seinem Angriff noch länger gewartet. Aber dann bestand die Gefahr, daß der Abstand zu Silver Dollar zu groß wurde, um ihn im Endspurt noch einzuholen.
George benutzte keine Reitgerte, um den Rappen anzutreiben. Der dunkelhaarige Junge streichelte sein Pferd und flüsterte ihm die Koseworte ins Ohr, an die er Black Thunder während des kurzen Trainings hoffentlich gewöhnt hatte. Wenn nicht, war jetzt alles zu spät.
George jubilierte innerlich, als er spürte, wie Black Thunder sein Tempo steigerte. Die schwarzen Beine flogen nur so durch die Luft, und die Hufe schienen kaum noch den Boden zu berühren. Der jugendliche Reiter hatte tatsächlich das Gefühl, durch die Lüfte zu schweben.
Der Flachskopf auf dem Palomino machte ein völlig verdattertes Gesicht, als der Rappe an ihm vorbeizog wie an einem müde vor sich hin trottenden Ochsen im Joch.
George grinste darüber. Aber er wußte auch, daß er noch nicht gewonnen hatte. Mehr als zwei Pferdelängen trennten ihn vom langen Schweif des Schimmels. Und der Halbindianer ließ wieder die Reitgerte sprechen, als er sah, wie Black Thunder näherkam. Noch einmal steigerte Silver Dollar sein Tempo.
Die restliche Strecke betrug etwa zwei Meilen.
Nach einer halben Meile hatte der Rappe seinen Rivalen eingeholt. Als sich das Halbblut kurz umwandte und erkannte, wie nah im George schon gekommen war, zeichnete sich für einen kurzen Augenblick Panik in seinen schmalen, dunklen Augen ab. Dann blickte es wieder nach vorn und schlug den Schimmel noch härter mit der Gerte. Aber es nutzte nichts. Silver Dollar gab bereits sein Bestes.
Black Thunder dagegen schien vom nahen Sieg angespornt zu werden, ohne daß sein Reiter etwas dazutun mußte. Leichtfüßig griff der Rappe noch schneller aus und zog mit dem Schimmel gleich, als die Entfernung zum Ziel auf eine Meile zusammengeschrumpft war.
Die letzten achthundert Yards führten durch die Stadt. Auch zuvor war die Strecke von Schaulustigen gesäumt gewesen. Aber je näher die Pferde der Stadt kamen, desto mehr wurden es. Innerhalb der Stadtgrenzen waren es Tausende, die das Rennen verfolgten und ihre Favoriten anfeuerten. Daß der Außenseiter Black Thunder mit dem erfolgsverwöhnten Silver Dollar um den Sieg kämpfte, rief großes Erstaunen unter den Zuschauern hervor. Der Lärm der Menschen, an den Silver Dollar gewöhnt war, erschreckte Black Thunder ein wenig, und er fiel zurück, als die beiden Pferde die Stadtgrenze erreichten.
George streichelte sein Pferd beruhigend und sprach wieder zu ihm, während Häuser, Stände und Menschen um sie herum ständig wechselten und dabei zu einem bunten, lauten Brei verschmolzen. Black Thunder erholte sich von seinem Schrecken und griff wieder gleichmäßiger aus. Er war eine halbe Pferdelänge hinter den Konkurrenten zurückgefallen und kämpfte sich nun Zoll um Zoll wieder nach vorn.
Auf einer Distanz zum Ziel von vierhundert Yards lagen beide Tiere erneut Kopf an Kopf. Wieder sah George die Panik in dem bräunlichen Gesicht des Halbbluts. Und wieder klatschte die Gerte auf Silver Dollars Flanken.
Der Schimmel strengte sich an, aber gerade das war zuviel. Schaum trat vor sein Maul, und er wurde fast sekündlich langsamer. Black Thunder zog mühelos an ihm vorbei und lief mit zwei Pferdelängen Vorsprung über die Ziellinie.
Als George den Rappen langsam austraben ließ, herrschte erst atemlose Stille, so sehr waren alle Zuschauer von Black Thunders Sieg überrascht. Aber dann brandeten lauter Jubel und Hurrarufe auf. Selbst diejenigen, die nicht auf den Rappen gewettet hatten, freuten sich in der Mehrzahl über den Sieg des Außenseiters. Homer C. Asquith jedoch saß mit versteinerter Miene auf seiner Tribüne und warf dem Halbblut finstere Blicke zu.
George sonnte sich in seinem Erfolg, der nicht weniger der Erfolg von Black Thunder war. Aber der dunkelhäutige Junge freute sich nicht nur über den Sieg an sich, sondern noch mehr über das Geld, das den Auswanderern sicher einige Strapazen erleichtern würde.
*
Selbst Marshal Webb und Jacob fielen bei Black Thunders Sieg in die Hurrarufe ein. Für einen Moment hatte Jacob seine Sorgen vergessen und freute sich ganz einfach, daß Sam Kelleys Sohn es geschafft hatte.
Die Freude für Jacob und den Marshal währte nicht lange. Zwei aufgeregte, kreidebleiche Deputys, Grant Begley und Bill Stoner, kämpften sich mühsam durch die Menschenmenge und waren froh, als sie ihren Boß fanden. Man sah ihnen auf den ersten Blick an, daß etwas nicht in Ordnung war.
»Sie haben den German«, keuchte der schmächtige Begley und war so sehr außer Atem, daß er sich nach vorn beugen und seine Hände auf die Knie stützen mußte.
»Wer?« fragte Webb nur.
»Der Prediger und die anderen Auswanderer«, antwortete Stoner. »Sie haben das Gefängnis gestürmt und uns niedergeschlagen. Den German haben sie mitgenommen, um ihn im Lager aufzuknüpfen. Uns haben sie in seine Zelle gespürt. Zum Glück kam kurz darauf die Tochter vom alten Moses vorbei, um uns frischgebackenen Brombeerkuchen vorbeizubringen. Sonst säßen wir jetzt noch in der Zelle.«
»Wie lange ist der Überfall her?«
»Noch keine fünfzehn Minuten, Marshal«, erklärte Stoner.
»Vielleicht schaffen wir es noch, wenn wir uns beeilen«, sagte Webb und beschlagnahmte die nächstbesten Pferde, die vor einem Saloon an den Holm gebunden waren.
Auf ihnen galoppierten die drei Ordnungshüter und Jacob zum Lager des Trecks, die Straße entlang, die auch als Rennstrecke diente. Die letzten Rennpferde kamen ihnen dabei entgegen.
Irene, die bei den Kelleys und den Millers stand, sah ihnen besorgt nach. Jacob hätte ihr gern erklärt, was los war, aber dazu blieb keine Zeit. Vor seinem geistigen Auge sah er deutlich das Schreckensbild seines Freundes, der mit gebrochenem Genick an einem Baum hing.
Als die vier Männer den Treck erreichten, war es fast soweit. Martin saß mit auf den Rücken gefesselten Händen auf dem Rücken eines Braunen. Um seinen Hals lag eine Schlinge aus dickem, rauhem Hanf. Der Strick war an einem starken Ast der großen Buche befestigt, in deren Schatten das knochige Pferd stand.
Der Lynchmob hatte einen Kreis um Martin gebildet und schien nur darauf zu warten, daß Abner Zachary seine Bibel schloß, seine Strafpredigt beendete und das Zeichen für die Hinrichtung gab.
Ohne Rücksicht auf die Auswanderer trieben Jacob, Webb und die Deputys ihre Pferde durch die auseinanderspritzenden Kreis der Männer. Bis es nicht mehr weiterging, weil ein paar aus der Menge ihre Gewehre hoben und auf die Reiter richteten.
»Noch einen Schritt weiter, und ich pumpe Ihnen eine Ladung Blei in den Magen, Marshal!« drohte der grobschlächtige Ire Patrick O'Rourke, der Webb mit einer kurzläufigen Krider-Rifle bedrohte. Neben ihm stand sein rothaariger Bruder Liam, eine doppelläufige Schrotflinte in den stark behaarten Händen.