Lillebror machte ein bedenkliches Gesicht.
„Ja, aber der hat nun Nußschalen ins Hemd gekriegt und Kirschkerne ins Haar, das ist nicht gerade angenehm."
„Das stört keinen großen Geist", sagte Karlsson. „Hat man weiter keine Sorgen hier im Leben als ein paar Nußschalen im Hemd, dann kann man froh sein."
Es machte jedoch nicht den Eindruck, als ob der Herr mit der Zigarre besonders froh wäre. Man konnte sehen, wie er sich schüttelte, und dann hörte man, wie er nach der Polizei rief.
„Wie manche Leute sich doch wegen Kleinigkeiten aufregen", sagte Karlsson. „Er sollte lieber dankbar sein. Wenn nun die Kirschkerne in seinem Haar Wurzel schlagen, dann wächst da vielleicht ein hübscher kleiner Kirschbaum, und dann kann er den ganzen Tag Kirschen pflücken und Kerne spucken."
Dort unten auf der Straße ließ sich kein Polizist blicken. Der Herr mit der Zigarre mußte mit seinen Nußschalen und seinen Kirschkernen nach Hause gehen.
Karlsson und Lillebror kletterten wieder über das Dach zu Karlssons Haus zurück.
„Übrigens möchte ich auch Kirschkerne spucken", sagte Karlsson. „Da du sowieso bei der Arbeit bist, hol doch mal den Beutel mit den Kirschen, der hängt drinnen unter der Decke."
„Glaubst du, daß ich da herankomme?" fragte Lillebror.
„Steig auf die Hobelbank", sagte Karlsson.
Das tat Lillebror, und hinterher saßen Karlsson und Lillebror auf der Treppe und aßen getrocknete Kirschen und spuckten die Kerne in alle Richtungen. Sie kullerten mit leisem Prasseln über das Dach nach unten. Es klang so lustig.
Jetzt fing es an, dämmerig zu werden. Eine weiche, warme Herbstdämmerung senkte sich auf alle Dächer und alle Häuser.
Lillebror rückte näher an Karlsson heran. Es war gemütlich, dort auf der Treppe zu sitzen und mit Kirschkernen um sich zu spucken, während es immer dunkler wurde. Die Häuser sahen jetzt so anders aus, dunkel und geheimnisvoll und zuletzt ganz schwarz. Es war, als hätte jemand sie mit einer großen Schere aus schwarzem Papier ausgeschnitten und nur einige goldene Vierecke als Fenster daraufgesetzt. Es tauchten immer mehr leuchtende Vierecke in all dem Schwarz auf, denn nun zündeten die Menschen in ihren Häusern nach und nach das Licht an.
Lillebror versuchte, die Vierecke zu zählen. Zuerst waren es nur drei, dann waren es zehn, schließlich waren es viele, viele.
Durch die Fenster konnte man sehen, wie Menschen in den Stuben umhergingen und dieses oder jenes taten, und man konnte sich fragen, was sie machten und wer sie waren und weshalb sie gerade dort wohnten und nicht woanders.
Aber nur Lillebror fragte sich das, Karlsson nicht.
„Irgendwo müssen sie ja wohnen, die armen Menschen", sagte Karlsson. „Sie können ja nicht alle ein Haus auf dem Dach haben. Sie können ja nicht alle der beste Karlsson der Welt sein."
Karlssons Wecken-Tirritierung
Während Lillebror oben bei Karlsson war, war Mama beim Arzt. Es dauerte länger, als sie gedacht hatte, und als sie endlich nach Hause kam, saß Lillebror wieder ganz ruhig in seinem Zimmer und sah sich seine Briefmarken an.
„Guten Tag, Lillebror", sagte Mama, „sitzt du wieder über deinen Briefmarken?"
„Ja, das tue ich", sagte Lillebror, und das war ja richtig. Daß er erst vor einer kleinen Weile oben auf dem Dach gewesen war, das erzählte er nicht. Mama war zwar klug und hatte für fast alles Verständnis, daß er aber aufs Dach geflogen war - ob sie das verstand, war keineswegs so sicher. Lillebror beschloß, nicht von Karlsson zu sprechen. Nicht jetzt gleich. Nicht eher, als bis die ganze Familie versammelt war. Das würde eine wunderbare Überraschung beim Essen geben. Mama sah übrigens nicht gerade vergnügt aus. Sie hätte eine Falte zwischen den Augenbrauen, die sonst nicht da war. Lillebror fragte sich, warum.
Dann kam die übrige Familie nach Hause. Es war Zeit zum Essen, und sie saßen alle miteinander um den Eßtisch, Mama und Papa und Birger und Betty und Lillebror. Sie aßen Kohlrouladen, und wie gewöhnlich wickelte Lillebror den Kohl ab. Er mochte
kernen Kohl. Nur das, was innen war, aß er gern. Aber unterm Tisch zu seinen Füßen lag Bimbo, und der fraß so ziemlich alles. Lillebror wickelte den Kohl zu einem kleinen, schmierigen Paket zusammen, das er Bimbo hinhielt.
„Mama, sag ihm, er soll das lassen", sagte Betty. „Bimbo wird immer unausstehlicher - genau wie Lillebror." „Jaja", sagte Mama, „jaja!" Es war aber, als hätte sie es gar nicht gehört. „Ich mußte einfach alles essen, als ich klein war", sagte Betty.
Lillebror streckte ihr die Zunge heraus.
„Was du nicht sagst! Man merkt dir aber nicht an, daß das so viel genützt hätte."
Da traten Mama plötzlich Tränen in die Augen. „Zankt euch bitte nicht", sagte sie. „Ich kann es einfach nicht hören."
Und nun kam es heraus, weshalb sie so bedrückt war. „Der Arzt hat gesagt, ich sei blutarm und überanstrengt. Ich müßte verreisen und mich ausruhen. Wie ich das wohl machen soll!"
Es wurde ganz still am Tisch. Lange Zeit sagte keiner ein Wort.
Was für traurige Nachrichten! Mama war krank, das war wirklich traurig. Und dann sollte sie auch noch verreisen, das fand Lillebror noch schlimmer.
„Ich will, daß du jeden Tag in der Küche stehst, wenn ich von der Schule nach Hause komme, und deine Schürze anhast und Zimtwecken backst", sagte Lillebror.
„Du denkst immer nur an dich", sagte Birger streng. Lillebror schmiegte sich dicht an Mama.
„Ja, sonst kriegt man keine Wecken", sagte er. Aber Mama hörte auch jetzt nicht hin. Sie unterhielt sich mit Papa.
„Wir müssen versuchen, ob wir eine Hausgehilfin bekommen können, wenn ich auch nicht ahne, wie."
Papa und Mama machten sorgenvolle Gesichter. Es war gar nicht so gemütlich am Eßtisch wie sonst immer. Lillebror sagte sich, es müsse jemand etwas tun, damit es ein bißchen lustiger würde, und wer könnte das besser als er selber.
„Ratet mal trotzdem was Lustiges", sagte er. „Ratet, wer zurückgekommen ist!"
„Wer — oh, doch nicht etwa Karlsson", sagte Mama. „Komm mir jetzt nicht und sage, daß wir nun auch noch diese Sorge haben müssen!"
Lillebror sah sie vorwurfsvoll an.
„Wieso Sorge? Ich finde das mit Karlsson schön."
Da lachte Birger.
„Das wird aber 'ne lustige Bude werden. Keine Mama, nur Karlsson und eine Hausgehilfin, die hier machen kann, was sie will."
„Macht mir doch nicht noch mehr Angst", sagte Mama. „Denkt nur, wenn die Hausgehilfin Karlsson sieht - wie soll das nur werden?"
Papa warf Lillebror einen strengen Blick zu.
„Gar nichts wird ,werden´. Die Hausgehilfin wird von Karlsson weder etwas hören noch ihn sehen. Versprich mir das, Lillebror!"
„Karlsson fliegt, wohin er will", sagte Lillebror. „Aber ich verspreche, daß ich nichts über ihn erzähle."
„Keinem einzigen Menschen", sagte Papa. „Vergiß nicht, was wir abgemacht haben."
„Nöö, keinem Menschen", sagte Lillebror. „Höchstens der Lehrerin in der Schule."
Aber Papa schüttelte den Kopf.
„Auf keinen Fall der Lehrerin! Unter gar keinen Umständen!"
„Tsss", machte Lillebror. „Dann erzähle ich aber auch nichts von der Hausgehilfin. Und eine Hausgehilfin, das ist doch wirklich schlimmer als Karlsson."
Mama seufzte.
„Wir wissen noch nicht einmal, ob wir eine Hausgehilfin finden", sagte sie.
Schon am nächsten Tage setzte sie eine Anzeige in die Zeitung.
Es meldete sich nur eine einzige. Sie hieß Fräulein Bock. In zwei Stunden wollte sie kommen und sich vorstellen.
Lillebror hatte Ohrenreißen bekommen und wich seiner Mutter nicht von der Seite. Am liebsten wollte er auf ihrem Schoß sitzen, obgleich er eigentlich viel zu groß dafür war.