Lillebror rührte eine doppelte Dosis der Medizin an und trichterte sie Karlsson ein, der bereitwillig den Mund aufsperrte und sich's gefallen ließ. Dann saßen sie still da und warteten.
Nach einer halben Minute hüpfte Karlsson freudestrahlend aus dem Bett.
„Ein Wunder ist geschehen", rief er. „Ich bin fieberfrei! Du hast wieder gewonnen. Her mit dem Schokoladenkuchen!" Lillebror seufzte und gab den letzten Schokoladenkuchen her. Karlsson blickte ihn ungehalten an.
„Solche Trotzköpfe wie du sollten niemals wetten", sagte er. „Das müssen so Leute sein wie ich, die immer wie eitel Sonnenschein herumlaufen, ob wir nun gewinnen oder verlieren."
Es war eine Weile still, abgesehen von Karlssons Schmatzen, als er den Schokoladenkuchen vertilgte. Danach sagte er: „Da du nun aber so ein gefräßiger kleiner Bengel bist, ist es wohl das beste, wir teilen den Rest brüderlich. Hast du noch Bonbons übrig?"
Lillebror kramte in der Hosentasche.
„Drei", sagte er und holte zwei Bonbons und einen Himbeerdrops hervor.
„Drei", sagte Karlsson, „die kann man nicht teilen, das weiß jedes Kind."
Er nahm den Himbeerdrops aus Lillebrors ausgestreckter Hand und verschlang ihn schleunigst. „Aber jetzt geht es", sagte er.
Alsdann sah er mit hungrigen Augen auf die beiden Bonbons. Der eine war eine Kleinigkeit größer als der andere. „Gutmütig und bescheiden wie ich bin, lasse ich dich zuerst wählen", sagte Karlsson. „Aber du weißt wohl", fuhr er fort und sah Lillebror mit strengem Blick an, „wer zuerst wählen darf, muß den kleineren nehmen." Lillebror überlegte einen Augenblick.
„Ich möchte, daß du zuerst wählst", sagte er sehr erfinderisch. „Na ja, wenn du so darauf bestehst", sagte Karlsson und schnappte sich den größeren Bonbon, den er schleunigst in den Mund stopfte.
Lillebror blickte auf den kleinen Bonbon, der noch in seiner Hand lag.
„Na, nun hör mal, du hattest doch gesagt, wer zuerst wählen darf, muß den kleineren nehmen ..."
„Paß mal auf, du kleine Naschkatze", sagte Karlsson. „Wenn du hättest zuerst wählen dürfen, welchen würdest du dann genommen haben?"
„Ich hätte den kleineren genommen, bestimmt", sagte Lillebror ernsthaft.
„Was beschwerst du dich dann", sagte Karlsson. „Den hast du ja jetzt auch bekommen!"
Lillebror überlegte von neuem, ob es so etwas war, was Mama mit „einem vernünftigen Gespräch" meinte.
Aber Lillebror war nie sehr lange mißgestimmt; wie es auch sein mochte, so war es jedenfalls schön, daß Karlsson kein Fieber mehr hatte.
Das fand Karlsson auch.
„Ich werde an alle Doktoren schreiben und ihnen erzählen, was gegen Fieber hilft. Probiert Karlsson vom Dachs Kuckelimuck-Medizin, werde ich schreiben. Die beste Medizin der Welt gegen Fieber!"
Lillebror hatte seinen Bonbon noch nicht aufgegessen. Der sah so ergiebig und gut und herrlich aus, und er wollte ihn erst ein bißchen anschauen. Wenn man erst anfing, ihn zu essen, war er ja bald alle.
Karlsson sah auch auf Lillebrors Bonbon. Eine ganze Weile sah er auf Lillebrors Bonbon. Dann sagte er: „Wollen wir wetten, daß ich deinen Bonbon wegzaubern kann, ohne daß du es siehst?"
„Das kannst du nicht", sagte Lillebror. „Nicht, wenn ich hier stehe und ihn in der Hand halte und die ganze Zeit daraufschaue."
„Wollen wir wetten?" fragte Karlsson.
„Nein", sagte Lillebror. „Ich weiß, daß ich gewinne, und dann kriegst du bloß den Bonbon ..."
Lillebror hatte das Gefühl, daß diese Art des Wettens falsch war, denn so ging es nie zu, wenn er mit Birger oder Betty wettete.
„Aber wir können so wetten, wie man es gewöhnlich tut, so daß der, der gewinnt, den Bonbon bekommt", sagte er. „Wie du willst, du gefräßiger kleiner Bengel", sagte Karlsson. „Wir wetten, daß ich den Bonbon wegzaubern kann, ohne daß du es siehst."
„Man los", sagte Lillebror.
„Hokuspokus fidibus", sagte Karlsson und schnappte sich den Bonbon. „Hokuspokus fidibus", sagte er und stopfte ihn in den Mund.
„Halt!" schrie Lillebror. „Ich hab* doch gesehen, daß du ihn weggezaubert hast..."
„Hast du?" sagte Karlsson und schluckte heftig. „Dann hast du wieder gewonnen. So'n Jungen hab' ich wirklich noch nie gesehen, der jede Wette gewinnt."
„Ja ... aber ... der Bonbon", sagte Lillebror völlig verwirrt. „Der, der gewinnt, sollte doch den Bonbon kriegen." „Richtig, das ist allerdings wahr", sagte Karlsson. „Aber
den Bonbon habe ich weggezaubert, und ich wette, daß ich ihn nicht wieder hervorzaubern kann."
Lillebror schwieg. Aber er dachte, sowie er Mama wiedersah, wollte er ihr sagen, daß vernünftige Gespräche kein bißchen zu brauchen waren, wenn man feststellen wollte, wer recht hatte.
Er steckte die Hände in seine leeren Hosentaschen. Und — war es zu glauben — da lag noch ein Bonbon, den er nicht bemerkt hatte! Ein großer fester, herrlicher Bonbon. Lillebror lachte.
„Ich wette, daß ich noch einen Bonbon habe. Und ich wette, daß ich ihn auf der Stelle aufesse", sagte er und stopfte den Bonbon geschwind in den Mund. Karlsson setzte sich aufs Bett und grollte. „Du solltest wie eine Mutter zu mir sein", sagte er. „Und dann tust du nichts weiter, als in dich reinstopfen, soviel du reinkriegst. Ich habe noch nie einen so gefräßigen kleinen Bengel gesehen."
Er saß einen Augenblick schweigend da und sah noch finsterer aus.
„Übrigens habe ich noch kein Fünförestück bekommen dafür, daß der Wollschal gekratzt hat", sagte er. „Ja, aber du hast ja gar keinen Wollschal umbekommen", sagte Lillebror.
„Es gibt im ganzen Haus keinen Wollschal", sagte Karlsson brummig. „Aber wenn es einen gegeben hätte, dann hätte ich ihn umbekommen, und dann hätte er gekratzt, und dann hätte ich fünf Öre bekommen."
Er blickte Lillebror verlangend an, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
„Muß ich darunter leiden, daß es keinen Wollschal im Hause gibt? Findest du das richtig?"
Das fand Lillebror nicht richtig. Und da schenkte er Karlsson vom Dach seinen letzten Fünfer.
5. Karlsson macht Streiche
„Jetzt fühle ich mich zu einem kleinen Schabernack aufgelegt", sagte Karlsson nach einer Weile. „Wir machen einen Ausflug über die Dächer hier herum. Dabei kommt einem immer ein Gedanke."
Das wollte Lillebror gern. Er nahm Karlsson bei der Hand, und sie zogen mitsammen durch die Tür aufs Dach hinaus. Es hatte jetzt angefangen zu dämmern, und alles war wunderschön. Die Luft war so blau wie immer im Frühling, alle Häuser sahen geheimnisvoll aus, wie Häuser in der Dämmerung aussehen, der Park, in dem Lillebror immer spielte, leuchtete seltsam grün von unten herauf, und von der großen Balsampappel auf Lillebrors Hof roch es so herrlich bis zum Dach hinauf.
Es war ein wunderbarer Abend für Dachspaziergänge. Alle Fenster standen offen, und man konnte viele verschiedene Geräusche und Stimmen hören. Menschen, die sprachen, und Kinder, die lachten, und Kinder, die weinten. Und aus einer Küche in der Nähe hörte man Geschirr klappern, das gerade abgewaschen wurde, und ein Hund bellte, und irgendwo saß jemand und klimperte auf einem Klavier. Von der Straße unten hörte man das Geknatter eines Motorrades, und als das verhallte, kam ein Ackergaul mit einem Wagen angeklappert, und jeder Tritt war bis zum Dach hinauf zu hören.
„Wenn die Leute ahnten, wieviel Spaß es macht, auf dem Dach herumzugehen, dann würde nicht einer unten auf der Straße bleiben", sagte Lillebror. „Ujj, was macht das für einen Spaß."