„So was darfst du nie wieder tun, merk dir das."
Als Lillebror etwas später in seinem Bett lag, versammelten sie sich alle um ihn, ganz so, als habe er Geburtstag. Aber Papa sagte sehr ernst:
„Konntest du dir nicht denken, daß wir in Sorge waren? Konntest du dir nicht denken, daß Mama weinen und traurig sein würde?"
Lillebror wand und drehte sich in seinem Bett.
„So furchtbar doll in Sorge, das konnte ich mir nicht gerade denken", murmelte er.
Mama umarmte ihn fest und sagte:
„Stell dir vor, wenn du abgestürzt wärst! Stell dir vor, wenn wir dich verloren hätten!"
„Wäret ihr dann sehr traurig gewesen?" fragte Lillebror hoffnungsvoll.
„Ja, was meinst du sonst?" sagte Mama. „Wir wollen dich doch um keinen Preis der Welt verlieren, das kannst du dir doch denken."
„Auch nicht um hunderttausend Millionen Kronen?" fragte Lillebror.
„Nein, nicht um hunderttausend Millionen Kronen." „Bin ich so viel wert?" fragte Lillebror verblüfft. „Aber gewiß doch", sagte Mama und drückte ihn noch einmal an sich.
Lillebror überlegte. Hunderttausend Millionen Kronen — was für eine unheimliche Menge Geld. Konnte es möglich sein, daß er so viel wert war? Wo man für fünfzig Kronen einen jungen Hund bekommen konnte?
„Du, Papa", sagte Lillebror, als er fertig überlegt hatte. „Wenn ich hunderttausend Millionen Kronen wert bin — dann könnte ich doch fünfzig Kronen in bar bekommen und mir einen kleinen Hund kaufen?"
6. Karlsson spielt Gespenst
Erst am nächsten Tag beim Abendessen fingen sie an, Lillebror auszufragen, wie er auf das Dach hatte hinaufkommen können.
„Bist du durch die Bodenluke hinausgestiegen?" fragte Mama. „Nein, ich bin mit Karlsson vom Dach hinaufgeflogen", sagte Lillebror.
Mama und Papa schauten sich gegenseitig an. „Nein, das geht nun aber nicht so weiter", sagte Mama. „Dieser Karlsson vom Dach macht mich noch verrückt." „Lillebror, es gibt keinen Karlsson vom Dach", sagte Papa. „Den gibt es nicht?" sagte Lillebror. „Gestern gab es ihn aber noch."
Mama schüttelte den Kopf.
„Es ist nur gut, daß die Schule bald zu Ende ist und du zu Großmutter fahren kannst", sagte sie. „Dorthin kommt Karlsson hoffentlich nicht mit." Das war nun allerdings eine Sorge, die Lillebror ganz vergessen hatte. Er sollte den Sommer über zur Großmutter fahren und Karlsson zwei Monate lang nicht sehen. Nicht,
daß es ihm bei Großmutter nicht gefiel, da gab es immer so viel Abwechslung — aber ach, wie würde er Karlsson vermissen! Und wenn nun Karlsson nicht mehr auf dem Dache wohnte, wenn Lillebror zurückkam?
Die Ellbogen auf dem Tisch und den Kopf in die Hände gestützt, saß er da und versuchte, sich auszumalen, wie das Leben ohne Karlsson werden würde.
„Nicht die Ellbogen auf den Tisch stützen, das weißt du doch", sagte Betty.
„Das geht dich gar nichts an", sagte Lillebror.
„Nicht die Ellbogen auf den Tisch stützen, Lillebror", sagte
Mama. „Möchtest du noch ein wenig Blumenkohl?"
„Nee, lieber tot sein", sagte Lillebror.
„Pfui, so was sagt man doch nicht", sagte Papa. „Man sagt ,nein, danke'."
War das nun eine Art, mit einem Hunderttausend-Millionen-Jungen herumzukommandieren? dachte Lillebror. Aber das sagte er nicht. Statt dessen sagte er:
„Wenn ich sage ,lieber tot sein', dann müßt ihr doch verstehen, daß ich ,nein danke' meine."
„Aber so sagt ein Gentleman nicht", sagte Papa beharrlich. „Und du möchtest doch sicher ein Gentleman sein, nicht wahr, Lillebror?"
„Nee, ich möchte lieber so sein wie du, Papa", sagte Lillebror. Mama und Birger und Betty lachten. Lillebror wußte zwar nicht, weshalb, aber es wollte ihm scheinen, als lachten sie über seinen Vater, und das mißfiel ihm. „Ich will so sein wie du, Papa, genau so'n Netter wie du", sagte er und sah seinen Vater zärtlich an.
„Danke, mein Junge", sagte Papa. „Wie war es doch, möchtest du wirklich nicht noch mehr Blumenkohl haben?" „Nee, lieber tot sein", sagte Lillebror. „Aber er ist gesund", sagte Mama.
„Das dachte ich mir schon", sagte Lillebror. „Je weniger man ein Essen mag, desto gesünder ist es. Warum stopfen sie alle diese Vitamine in Sachen, die schlecht schmecken? Das möchte ich wirklich mal wissen!"
„Ja, ist das nicht eigentümlich?" sagte Birger. „Du findest sicher, die sollten statt dessen lieber in Bonbons stecken oder in Kaugummi?"
„Das ist das Vernünftigste, was du seit langer Zeit gesagt hast", meinte Lillebror.
Nach dem Essen ging er in sein Zimmer hinüber. Er hoffte von ganzem Herzen, daß Karlsson kommen möge. Lillebror mußte ja bald verreisen, und er wollte Karlsson vorher so oft wie möglich sehen.
Karlsson hatte das vielleicht gefühlt, denn er kam angeflogen,
sobald Lillebror die Nase aus dem Fenster steckte.
„Hast du heute kein Fieber?" fragte Lillebror.
„Fieber — ich?" sagte Karlsson. „Ich hab' nie Fieber gehabt.
Das war nur Einbildung."
„Hast du dir nur eingebildet, daß du Fieber hattest?" sagte Lillebror verdutzt.
„Nee, aber ich hab' dir eingebildet, daß ich welches hätte", sagte Karlsson und lachte vergnügt. „Der beste Streichemacher der Welt — rate, wer das ist!"
Karlsson verhielt sich nicht eine Sekunde still. Die ganze Zeit, während er redete, wirbelte er im Zimmer herum und zupfte neugierig an allen Sachen, öffnete so viele Schränke und Kästen, wie er konnte, und untersuchte alles mit größter Anteilnahme.
„Nein, heute habe ich kein Fieber", sagte er. „Heute bin ich kolossal obenauf und zu einem kleinen Streich aufgelegt." Lillebror war auch zu einem kleinen Streich aufgelegt. Aber vor allen Dingen wollte er, daß Mama und Papa und Birger und Betty Karlsson sehen sollten, damit endlich all das Geschwätz aufhörte, daß es Karlsson nicht gebe.
„Warte einen Augenblick", sagte er schnell. „Ich komme sofort zurück."
Und dann stürzte er davon, ins Wohnzimmer hinüber. Birger und Betty waren gerade weggegangen, das war dumm, aber Mama und Papa saßen jedenfalls da, und Lillebror sagte voll Eifer:
„Mama und Papa, kommt doch gleich mal mit in mein Zimmer rüber."
Er wagte nicht, Karlsson zu erwähnen, es war besser, sie sahen ihn ohne vorherige Ankündigung.
„Willst du nicht lieber hier bleiben und bei uns sitzen?" fragte Mama. Aber Lillebror zerrte sie am Ärmel mit.
„Nein, ihr sollt mit zu mir rüberkommen und euch was ansehen."
Nach einiger Überredung kamen sie beide mit, und Lillebror öffnete erfreut und glücklich die Tür zu seinem Zimmer. Jetzt endlich sollten sie ihn sehen!
Er hätte heulen können, so enttäuscht war er. Das Zimmer war leer — genau wie das erste Mal, als er Karlsson zeigen wollte.
„Was sollten wir uns denn ansehen?" fragte Papa.
„Ach, nichts Besonderes", murmelte Lillebror.
Zum Glück klingelte im selben Augenblick das Telefon, so daß Lillebror keine weiteren Erklärungen abzugeben brauchte.
Papa ging hinaus, um sich zu melden. Und Mama hatte einen Topfkuchen im Ofen, nach dem sie sehen mußte. Lillebror
blieb allein. Er setzte sich ans Fenster. Er war richtig wütend auf Karlsson und beschloß, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, wenn er angeflogen käme.
Aber es kam niemand angeflogen. Statt dessen ging die Tür zum Wandschrank auf, und Karlsson steckte sein vergnügtes Gesicht heraus. Da war Lillebror verblüfft.
„Was in aller Welt hast du in meinem Wandschrank gemacht?" sagte er.