Zu guter Letzt landete Karlsson auf dem eigenen Dach. „Jetzt wollen wir mal sehen, ob du mein Haus finden kannst", sagte Karlsson. „Ich verrate nicht, daß es hinterm Schornstein steht. Das mußt du selber rauskriegen."
Lillebror war nie zuvor auf einem Dach gewesen. Aber mitunter hatte er gesehen, wie Männer von oben Schnee herunterschaufelten und mit einem Seil um den Leib auf dem Dach herumstiegen. Lillebror fand immer, die hätten Glück, daß sie das tun durften. Aber jetzt hatte er selbst das Glück — obwohl er natürlich kein Seil um den Leib hatte. Und es kribbelte ihm so komisch im Magen, als er auf den Schornstein zu balancierte.
Dahinter lag tatsächlich Karlssons kleines Haus. Oh, es war so süß und hatte grüne Fensterläden und eine gemütliche Treppe davor, auf der man sitzen konnte, wenn man Lust hatte. Aber eben jetzt wollte Lillebror nur so schnell wie möglich ins Haus hinein und all die Dampfmaschinen und Gockelhahnbilder und alles andere sehen, was Karlsson hatte.
An der Tür war ein Schild, damit man wußte, wer hier wohnte.
Karlsson vom Dach Der beste Karlsson der Welt stand auf dem Schild.
Und Karlsson machte die Tür sperrangelweit auf und schrie: „Willkommen, lieber Karlsson — und du auch, Lillebror!" Alsdann stürzte er vor Lillebror hinein.
„Ich muß ins Bett, denn ich bin der Kränkste der Welt!" schrie er und warf sich kopfüber auf ein rotgestrichenes Holzsofa, das an der einen Wand stand.
Lillebror trat hinter ihm ein. Er platzte fast vor Neugierde.
Es war riesig gemütlich bei Karlsson, das sah Lillebror auf den ersten Blick. Außer dem Holzsofa stand da eine Hobelbank, die Karlsson offenbar auch als Tisch benutzte, und dann standen da noch ein Schrank und ein paar Stühle, und ein offener Kamin mit einem eisernen Rost darin war auch da. Hier machte sich Karlsson wohl sein Essen. Aber irgendwelche Dampfmaschinen waren nicht zu erblicken. Lillebror sah sich lange um, konnte aber nicht eine einzige entdecken, und schließlich fragte er: „Wo hast du deine Dampfmaschinen?"
„Hrrrhm", machte Karlsson. „Meine Dampfmaschinen — die sind alle miteinander explodiert. Ein Fehler an den Sicherheitsventilen, weiter nichts! Aber das stört keinen großen Geist, und darüber braucht man nicht zu trauern." Lillebror sah sich noch einmal um.
„Aber deine Gockelhahnbilder? Sind die auch explodiert?" fragte er und hatte einen richtig spöttischen Ton gegen Karlsson.
„Natürlich nicht", sagte Karlsson. „Was ist denn wohl das da?" fragte er und zeigte auf ein Stück Pappe, das neben dem Schrank an die Wand genagelt war. Ganz unten in der einen Ecke der Pappe saß tatsächlich ein Hahn, ein winzigkleiner roter Gockelhahn. Sonst war die Pappe leer. „,Ein sehr einsamer Hahn' heißt dies Bild", sagte Karlsson. Lillebror sah sich den kleinen Gockelhahn an. Karlssons tausend Gockelhahnbilder — waren sie, wenn man es bei Lichte besah, nichts weiter als dies kleine Hahnengerippe da? „,Sehr einsamer Hahn', von dem besten Gockelhahnmaler der Welt gemalt", sagte Karlsson mit zittriger Stimme. „Ach, wie ist das Bild wunderschön und traurig! Aber jetzt darf ich nicht anfangen zu weinen, sonst steigt das Fieber."
Er schmiß sich rücklings auf die Kissen und faßte sich an die Stirn.
„Du mußt wie eine Mutter zu mir sein, fang an", sagte er.
Lillebror wußte nicht so recht, wie er anfangen sollte.
„Hast du irgendeine Medizin?" fragte er zögernd.
„Ja, aber keine, die ich einnehmen mag", sagte Karlsson.
„Hast du noch 'n paar Fünfer?"
Lillebror holte ein Fünförestück aus der Hosentasche.
„Gib erst mal her", sagte Karlsson.
Lillebror gab ihm den Fünfer. Karlsson hielt ihn ganz fest in der Hand und sah sehr pfiffig und zufrieden aus.
„Ich weiß, was für eine Medizin ich einnehmen muß", sagte er.
„Was denn für eine?" erkundigte sich Lillebror. „Karlsson vom Dachs Kuckelimuck-Medizin. Die muß halb aus Schokolade und halb aus Bonbons sein, und dann rührst du alles mit'n paar Kuchenkrümeln tüchtig zusammen. Tu das, dann kann ich jetzt sofort eine Dosis einnehmen", sagte Karlsson. „Das ist gut gegen Fieber." „Das glaube ich nicht", sagte Lillebror.
„Wollen wir wetten?" fragte Karlsson. „Ich wette einen Schokoladenkuchen, daß ich recht habe." Lillebror überlegte, daß Mama vielleicht so etwas meinte, wenn sie sagte, man könne durch ein vernünftiges Gespräch feststellen, wer recht hätte.
„Wollen wir wetten?" fragte Karlsson noch einmal. „Gemacht", sagte Lillebror.
Er holte einen der beiden Schokoladenkuchen heraus, die er gekauft hatte, und legte ihn auf die Hobelbank, damit man sehen konnte, was die Wette galt. Dann rührte er eine Medizin nach Karlssons Angaben zusammen. Er nahm saure Drops und Himbeerbonbons und gewöhnliche Bonbons und mischte sie in einer Tasse mit ebenso vielen Stückchen Schokolade, und dann zerbrach er die Mandelkekse in kleine Krümel und streute sie darüber. So eine Medizin hatte Lillebror in seinem ganzen Leben nicht gesehen, aber sie sah gut aus, und er wünschte fast, er selber hätte auch ein bißchen Fieber, damit er sie probieren könnte.
Aber Karlsson saß im Bett und sperrte den Mund weit auf wie ein junger Vogel, und Lillebror holte schleunigst einen Löffel herbei.
„Tu mir eine große Dosis in den Mund", sagte Karlsson. Und das tat Lillebror.
Dann saßen die beiden still da und warteten darauf, daß Karlssons Fieber sinke.
Nach einer halben Minute sagte Karlsson:
„Du hattest recht. Es hat nicht geholfen gegen das Fieber. Gib mir den Schokoladenkuchen!"
„Bekommst du den Schokoladenkuchen?" fragte Lillebror verwundert. „Dabei habe ich doch gewonnen." „Wenn du gewonnen hast, dann ist es doch wohl nicht zuviel verlangt, wenn ich den Schokoladenkuchen kriege", sagte Karlsson. „Gerecht muß es auf dieser Welt doch zugehen. Übrigens bist du ein garstiger kleiner Schlingel, sitzt da und willst Kuchen essen, bloß weil ich Fieber habe."
Widerstrebend reichte Lillebror Karlsson den Schokoladenkuchen. Karlsson hieb sogleich die Zähne hinein und sagte, während er kaute:
„Kein saures Gesicht, wenn ich bitten darf. Nächstes Mal gewinne ich, und dann kriegst du den Schokoladenkuchen." Er kaute eifrig weiter, und als er auch das allerletzte bißchen Kuchen aufgegessen hatte, legte er sich in die Kissen zurück und seufzte schwer.
„All die armen Kranken!" sagte er. „Und ich Armer! Es ist klar, man sollte es mit einer doppelten Dosis von der Kuckelimuck-Medizin versuchen, aber ich glaube nicht eine Sekunde, daß sie hilft."
„Doch, eine doppelte Dosis, glaub' ich, hilft", sagte Lillebror schnell. „Wollen wir wetten?"
Lillebror konnte fürwahr auch schlau sein. Er glaubte keineswegs, daß Karlssons Fieber selbst durch eine dreifache Dosis Kuckelimuck-Medizin geheilt werden könnte, aber er wollte so gern eine Wette verlieren. Denn er hatte nur noch einen Schokoladenkuchen, und den würde er ja bekommen, wenn Karlsson die Wette gewann.
„Meinetwegen können wir ruhig wetten", sagte Karlsson. „Rühre eine doppelte Dosis an! Bei Fieber darf man nicht das geringste unversucht lassen. Das einzige, was wir tun können, ist: versuchen und abwarten."