»Ja, natürlich«, versicherte Alexandra ihm. »Ich schreibe ohnehin Reisereportagen. Falls Bruder Johannes damit einverstanden ist, kann ich solche Details eventuell mitaufnehmen – aber nur dann. Vielleicht wird der eine oder andere Gast eher dazu bereit sein, einen Aufenthalt im Klosterhotel zu buchen, wenn er weiß, mit welchem Ehrgeiz Sie alle ans Werk gegangen sind, um Ihr Zuhause zu retten.«
»Wissen Sie, wenn Sie von Ehrgeiz reden, dann hat Bruder Johannes jeden von uns übertroffen. Ohne ihn hätten wir das niemals geschafft. Er ist ein wirklicher Visionär.«
»Dann ist das hier alles seine Idee?«
»Ohne jeden Zweifel. Als er sah, was unser Abt angerichtet hatte, verlor er nicht den Mut, sondern überlegte, was wir tun können, um unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, anstatt zusehen zu müssen, wie uns unser Zuhause genommen wird. Er schloss sich eine Woche lang in seinem Zimmer ein, niemand durfte ihn stören, und dann … dann hatte er das alles hier ausgearbeitet. Er hatte genau überlegt, was so bleiben konnte, wie es war, und was umgebaut werden musste. Dann führte er endlose Verhandlungen mit unserem Orden. Sie können sich denken, dass die Ordensleitung zunächst von seinen Plänen nicht begeistert war. Doch schließlich stimmte sie zu. Vielleicht hat vor allem die Tatsache, dass wir zumindest teilweise und in einer Art Rotationsverfahren, wenn Sie so wollen, das monastische Leben weiterfühlen, dazu beigetragen, sie umzustimmen.« Bruder Dietmar fuhr sich mit der Hand durch den Bart. »Als Nächstes holte Bruder Johannes dann unzählige Angebote von Handwerksbetrieben ein, mit denen er sich an die Bank wandte. Dort war man zum Glück von seiner peniblen Art so angetan, dass man uns die nötigen Gelder zur Verfügung stellte.« Bruder Dietmar lachte. »Als dann die Bauarbeiten begannen, trieb Bruder Johannes die Handwerker mit seiner Art fast in den Wahnsinn. Er hatte mit ihnen einen verbindlichen Zeitplan vereinbart und wachte mit Argusaugen darüber, dass sie diesen Plan auch einhielten. Sobald es irgendwo eine Verzögerung gab, machte er dem betreffenden Betrieb die Hölle heiß und drohte mit Konventionalstrafen, sollte sich die Eröffnung des Hotels dadurch verschieben.«
»Ein sehr engagierter Bauherr, würde ich sagen.«
»Und sehr überzeugend«, ergänzte Bruder Dietmar schmunzelnd. »Alle Arbeiten waren früher als geplant abgeschlossen, und insgesamt konnten wir so fast hunderttausend Euro einsparen.«
»Beachtlich. So sollte woanders auch vorgegangen werden.«
Der Mönch stimmte Alexandra zu, und sie gelangten zu einer Wendeltreppe. Kater Brown, der vorgelaufen war, sprang zielstrebig die Stufen nach unten.
Durch einen Seiteneingang verließen sie das Hauptgebäude und gelangten auf einen schmalen gepflasterten Pfad, der an der kleinen Kapelle entlang in beide Richtungen verlief. Der Mönch bog nach links ab. Alexandra folgte ihm bis zu einer Steintreppe, die auf einer Rasenfläche endete. Als Alexandra nach oben sah, entdeckte sie ihr Zimmerfenster und den Mauervorsprung, auf dem der Kater balanciert sein musste, um in ihre Unterkunft »einsteigen« zu können.
Sie bogen abermals links ab. Alexandras Blick fiel auf mehrere gesondert stehende, kleinere Gebäude. »Was ist das da drüben?«, wollte sie wissen.
»Das linke ist das ehemalige Gästehaus, die anderen wurden einmal als Wirtschaftsgebäude genutzt«, erklärte der Mönch. »Der Stall, der Getreidespeicher, die Brauerei. Früher verlief um das Ganze herum noch eine Mauer, aber die wurde vor bestimmt zwanzig Jahren komplett abgerissen, um das Kloster für die Welt zu öffnen. Die Anlage sollte auf Außenstehende nicht so sehr wie ein Gefängnis wirken. Diese Gebäude benötigen wir derzeit nicht, trotzdem hat Bruder Johannes sie bereits in seine Planung einbezogen. Sie sollen nach und nach zu Unterkünften umgebaut werden, wenn das Hotel langfristig so ausgelastet ist, dass wir mehr Gäste unterbringen müssen.«
»Bruder Johannes hat offenbar an alles gedacht.«
»Oh ja«, entgegnete Bruder Dietmar stolz. »Er ist für uns alle ein Vorbild.«
Als sie um das lang gestreckte Gebäude herumkamen, zeigte der Mönch in Richtung des Kräutergartens. »Da ist ja Bruder Johannes. Vielleicht wollen Sie ja jetzt mit ihm reden?«
Alexandra schaute nach links und rechts, aber von Tobias war weit und breit nichts mehr zu sehen. »Wenn er ein wenig Zeit für mich hat …«
»Kommen Sie, wir fragen ihn!«, sagte Bruder Dietmar.
Während sie sich dem Mönch näherten, der vor einem der Beete kniete und Unkraut zupfte, hechtete Kater Brown im Zickzack durch den Kräutergarten, um einen Schmetterling zu jagen, der ihm aber immer wieder entwischte.
»Bruder Johannes!«, rief Bruder Dietmar, als sie nur noch ein paar Meter von ihm entfernt waren. »Hier ist Besuch für dich.«
Der Angesprochene erhob sich, drehte sich um und kniff die Augen gegen die bereits etwas tiefer stehende Sonne zusammen. Bruder Dietmar zog sich zurück.
Alexandra stockte einen Moment der Atem, als sie Bruder Johannes sah. Zu dem grauen Haarkranz trug der schmale, ältere Mann einen kurz geschnittenen, sehr gepflegten grauen Bart. Die vollen, dunklen Augenbrauen bildeten einen interessanten Kontrast dazu. Als der Mönch Alexandra freundlich anlächelte, erschienen feine Fältchen in seinen Augenwinkeln. Alexandra blinzelte. Im ersten Moment war es ihr so vorgekommen, als stünde sie Sean Connery in seiner Rolle als William von Baskerville in Der Name der Rose gegenüber. Die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Männern wurde zusätzlich unterstrichen durch die Kutte, die Bruder Johannes wie alle seine Mitbrüder trug.
»Sie müssen Frau Berger sein«, sagte der Mönch. Seine Stimme klang dunkel und ein wenig rau. Alexandra nickte und reichte ihm die Hand. »Ihr Kollege, Herr Rombach, hat Sie mir bereits beschrieben«, fügte Bruder Johannes erklärend hinzu.
Alexandra wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie diese Beschreibung ausgefallen war, denn sie kannte Männer von Tobias Rombachs Schlag und deren Vokabular, wenn es darum ging, eine Frau zu beschreiben. Hoffentlich hatte Tobias sich diesmal, angesichts seines geistlichen Gesprächspartners, zurückgehalten.
»Aber keine Angst«, fuhr Bruder Johannes fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Er hat nur davon gesprochen, dass Sie schöne blonde Haare haben. Leider haben Sie ihn verpasst«, ergänzte er und deutete vage in Richtung des Eingangs.
»Oh, zu schade«, erwiderte sie ungewollt in einem spöttischen Tonfall, der den Mönch aufhorchen ließ.
»Sie beide verstehen sich nicht gut?«
Alexandra bekam vor Verlegenheit einen roten Kopf. Das Letzte, was sie wollte, war, unbeteiligte Dritte in ihren Dauerstreit mit Tobias hineinzuziehen.
»Das ist doch nur natürlich«, versicherte der Mönch ihr. »Wir sind zwar alle Gottes Kinder, aber wir müssen nicht immer alle miteinander auskommen.«
Sie zog die Brauen hoch. »Tatsächlich? Ich dachte, die Kirche predigt stets Frieden und Brüderlichkeit«, rutschte es ihr heraus, woraufhin sie verärgert über sich selbst die Augen verdrehte. Wie konnte sie nur so reden?
Bruder Johannes lächelte sie milde an. »Machen Sie sich deshalb keine Vorwürfe! Wir in unserem Kloster sehen die Welt so, wie sie ist. Wir sind Realisten und im steten Kontakt zu den Menschen. Es kann nun mal nicht jeder mit jedem gut auskommen. Die Welt wäre unerträglich, wenn das der Fall wäre. Sie wäre … so eintönig. Alle würden das Gleiche denken, jeder würde dem anderen recht geben und ihm Komplimente machen, weil er so einen guten Geschmack hat – nämlich den gleichen wie alle anderen.«
Alexandra fehlten sekundenlang die Worte.
»Kommen Sie, lassen Sie uns ein Stück in diese Richtung spazieren!« Der Mönch deutete auf die momentan ungenutzten Wirtschaftsgebäude. »Dahinter stehen ein paar Bänke, da können wir uns hinsetzen und uns unterhalten.«