Doch auch der Flur vor ihrem Zimmer lag im Dunkeln. Nur ein schwacher grünlicher Schein ging von den Notausgang-Schildern aus, die in Abständen an der Wand befestigt waren. Auch in den anderen Gästezimmern schien es dunkel zu sein, jedenfalls drang kein Licht unter einem Türspalt auf den Gang hinaus. Alexandra sah auf die Leuchtanzeige ihrer Armbanduhr: 22:00 Uhr. Erst da stieg eine Ahnung in ihr auf. Ein Blick auf ihren Laptop bestätigte ihre Vermutung: Seine Anzeige verriet ihr, dass er nicht länger aus der Steckdose gespeist wurde, sondern auf Akkubetrieb umgeschaltet hatte. Von nun an würde sie noch etwa zwei Stunden Zeit haben, um ihre Arbeit zu erledigen.
Seufzend blätterte sie durch den Prospekt, den die Klosterverwaltung ihr zugeschickt hatte, und nach einiger Suche entdeckte sie den sehr versteckt untergebrachten Hinweis, dass um zweiundzwanzig Uhr die Nachtruhe begann und alle Aktivitäten bis zum nächsten Morgen eingestellt wurden. Ein wenig verärgert über dieses »Kleingedruckte«, ergänzte sie ihren Artikelentwurf um einen Vermerk, dass sie auf diesen Punkt ausdrücklich hinweisen musste.
Wenigstens spendete der Monitor ihres Computers genügend Licht, damit sie sich ausziehen konnte. Eine Katzenwäsche im kleinen »Bad« musste für heute genügen. Als sie dann allerdings den Rechner herunterfuhr, sich ins Bett legte und auch die Taschenlampe im Handy ausschaltete, meinte Alexandra im ersten Moment, keine Luft mehr zu bekommen. Sie empfand die Finsternis, in die ihr Quartier getaucht war, als erdrückend. Doch dann schalt sie sich selbst eine Närrin. Das war ja albern! Was sollte ihr hier, mitten unter Mönchen, schon passieren?
Sie zwang sich, tief durchzuatmen, und nach einigen Minuten fühlte sie sich etwas besser, zumal sich ihre Augen an die Schwärze gewöhnt hatten und sie vage Konturen erkennen konnte. Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett und stand auf. Mit ausgestreckten Armen tastete sie sich zum Fenster vor, weil sie einen Blick nach draußen werfen wollte. Als sie dabei den schlafenden Kater Brown berührte, gab der ein leises Maunzen von sich, kümmerte sich dann aber weiter nicht mehr um die Störung.
Alexandra beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, da sie Mühe hatte zu erkennen, wo der Hügel endete und wo die schwarze Nacht begann. Im Zuge ihrer Recherchen war sie schon relativ viel herumgekommen, aber noch nie war sie ihrem Zuhause so nahe gewesen und hatte sich zugleich wie auf einem anderen Planeten gefühlt. Nur allmählich konnte sie die Sterne ausmachen, die immer zahlreicher wurden, je länger Alexandra nach oben sah.
Es war ein faszinierendes Schauspiel, wie sie es so lange nicht mehr erlebt hatte und das sich nur in einer Umgebung wie dieser entfalten konnte, in der der Himmel noch relativ frei von Umweltverschmutzung war. Weil die Grenze zwischen Himmel und Erde sich in der Schwärze verlor, fühlte Alexandra sich fast so, als schwebte sie im Weltraum.
Sie wusste nicht, wie lange sie so vorgebeugt am Fenster gestanden hatte, doch auf einmal spürte sie Müdigkeit in sich aufsteigen. Höchste Zeit, schlafen zu gehen!, sagte sie sich. Morgen wartet eine Menge Arbeit auf mich …
Ein hartnäckiges, für ihre Ohren viel zu lautes Glockenläuten riss Alexandra aus dem Schlaf. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es erst sechs Uhr war.
Alexandra stöhnte genervt. Eigentlich war dieses Klosterhotel allenfalls für Masochisten zu empfehlen.
Sie hielt sich die Ohren zu und wollte sich auf die Seite drehen, doch auch das war nicht möglich. Kater Brown hatte sich offensichtlich irgendwann in der Nacht auf ihren Bauch gelegt und dort gemütlich zum Schlafen zusammengerollt. Und er schien nicht bereit zu sein, dieses warme Plätzchen zu verlassen. Nur das leichte Zucken seiner Ohren verriet, dass auch er das dröhnende Glockengeläut hörte.
Nach endlosen zehn Minuten kehrte wieder Ruhe ein, und Alexandra kuschelte sich erneut ins Kissen. »Nur noch einen Moment«, murmelte sie, »nur den Traum zu Ende träumen …«
»Alexandra? Bist du da?«
Sie stöhnte leise. Warum konnte man sie nicht in Ruhe lassen? Da hatten endlich die Glocken aufgehört zu läuten, und nun brüllte Tobias den ganzen Flur zusammen! Wahrscheinlich wollte er sich und aller Welt beweisen, dass er im Gegensatz zu ihr, Alexandra, ein Frühaufsteher war. Na ja, vielleicht ging er ja wieder weg, wenn sie nicht reagierte. Oder er kam zu der Überzeugung, dass sie bereits ihr Zimmer verlassen hatte. Hauptsache, er hörte mit dem Lärm auf!
Aber er lärmte weiter, und kurz darauf war auch noch eine zweite Stimme zu vernehmen. Eine tiefere Stimme, die sagte: »Wenn Sie sich Sorgen machen, werde ich jetzt die Tür öffnen.«
Die Tür öffnen? Hatte sie das richtig verstanden? Nur weil sie nicht gleich um sechs Uhr aufstand, wollte man die Tür öffnen, um sie aus dem Bett zu zerren? War das wirklich ein Hotel, oder war sie versehentlich in ein Gefängnis geraten?
Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben. Sofort war Alexandra hellwach und sprang aus den Federn. Kater Brown wurde ein Stück durch die Luft gewirbelt und landete mit einem protestierenden Miauen auf der Matratze.
Alexandra bekam die Türklinke zu fassen, gerade als jemand von außen die Tür aufziehen wollte. »Hey, hey, hey, langsam!«, rief sie aufgebracht. »Was soll das?«
Sie öffnete die Zimmertür einen Spaltbreit. Auf dem Flur standen Tobias und ein hünenhafter Mönch.
»Du bist ja doch da«, sagte Tobias und klang sehr erleichtert.
»Natürlich bin ich da. Nur weil ich nach dem Sechsuhrläuten noch fünf Minuten liegen bleibe, musst du nicht gleich den Schlüsseldienst bestellen!«
»Fünf Minuten?«, gab er zurück. »Wir haben fast neun Uhr.«
»Was?« Sie sah auf die Armbanduhr. Tatsächlich. Es war drei Minuten vor neun. »Ich bin wohl noch mal eingeschlafen«, murmelte sie. »Augenblick, ich ziehe mich nur schnell an, dann bin ich sofort da. Ähm … ist irgendwas passiert? Warum die Aufregung?«
Tobias hob beschwichtigend die Hand. »Gleich«, erwiderte er. »Mach dich erst mal fertig.«
Als Alexandra zehn Minuten später mit Kater Brown im Schlepptau ihr Zimmer verließ, lehnte Tobias an der Wand neben seiner Unterkunft. Er stieß sich ab und ging Alexandra entgegen.
»Tut mir leid, dass ich dich eben so angefahren habe, aber ich dachte wirklich, es wäre erst kurz nach sechs.« Als er lächelnd nickte, fragte sie: »Also, was gibt es?«
»Wir waren in Sorge um dich. Wir dachten nämlich, du wärst auch verschwunden.«
»Auch?«
»Ja, Wildens Mitarbeiter vermissen ihren Chef. Er ist weder zum Frühstück noch kurz darauf zum ersten Motivationskurs erschienen«, sagte Tobias.
»Der Chef des Sklaventreiberverbandes? Vermisst ihn tatsächlich irgendjemand? Und möchte ihn wirklich jemand wiederfinden?«
Tobias kratzte sich am Kopf. »Nein, im Ernst. Komisch ist das schon … Sein Cayenne steht unverschlossen auf dem Parkplatz, der Schlüssel steckt noch, aber Wilden ist nirgends zu finden.«
»Würde mich nicht wundern, wenn ihn jemand erschlagen und verscharrt hätte«, brummte sie und bemerkte Tobias’ missbilligenden Blick. »Was denn? Vielleicht hat er mit seiner unerträglichen Art irgendwem den letzten Nerv geraubt.«
Darauf erwiderte Tobias nichts.
»Ach komm, er wird schon wieder auftauchen! Gibt es eigentlich noch Frühstück?« Alexandra konnte Tobias’ Sorge um diesen Choleriker beim besten Willen nicht teilen. Okay, sie wünschte ihm auch nicht, dass ihm etwas Ernstes zugestoßen war, aber sie hätte mit der Suche nach ihm wenigstens zwei Tage gewartet, um erst mal die Ruhe zu genießen.
»Nein, das wird bis sieben Uhr serviert, und das ist schon ein großes Zugeständnis an die Gäste. Früher läuteten die Glocken um fünf Uhr, und bis um halb sechs hatten alle gegessen.«