»Oh, dann will ich mich natürlich nicht beschweren«, merkte sie mit einem schiefen Grinsen an, doch ihre anfängliche Begeisterung für das Konzept des Klosterhotels erhielt einen weiteren Dämpfer.
Sie hatten das Foyer erreicht. Durch das Fenster konnte Alexandra sehen, dass sich die anderen Gäste auf dem Platz vor dem Haupteingang versammelt hatten und mehr oder weniger lebhaft miteinander diskutierten. »Ein paar von ihnen machen aber keinen sehr besorgten Eindruck«, stellte sie fest.
»Jeder reagiert bei so etwas anders«, antwortete Tobias, dem es ganz offensichtlich nicht gefiel, dass sie das Ganze so lässig nahm.
Aber wie hätte sie es sonst nehmen sollen? Bei jeder ihrer Begegnungen hatte Wilden sich wie ein Ekel aufgeführt. Da machte es ihr nun nichts aus, eine Weile auf seine Gesellschaft zu verzichten.
»Ja, vermutlich können es ein paar von ihnen gar nicht erwarten, Wilden für vermisst, verschollen und tot zu erklären«, meinte sie.
Gemeinsam gingen sie nach draußen. Kater Brown schlenderte hinter ihnen her, ließ sich aber Zeit, als wüsste er, dass Alexandra sich nur zu der Gruppe der Hotelgäste begeben wollte, die am Rand des Platzes vor dem Haupteingang warteten.
»Hallo«, begrüßte sie vier Frauen, die zusammenstanden und sich leise unterhielten. »Wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Alexandra Berger, ich bin Journalistin.«
Die vier stellten sich vor, aber bis auf den Vornamen Yasmin der einen Frau und den Nachnamen Maximilian einer anderen konnte Alexandra sich auf die Schnelle keinen der Namen merken.
»Noch immer fehlt von Bernd Wilden jede Spur«, berichtete Frau Maximilian. Sie war zu stark geschminkt, und ihr Busen malte sich unter dem eng anliegenden T-Shirt deutlich ab. Offenbar trug sie absichtlich keinen BH, zumindest ließ das ihr etwas affektiertes Gehabe in Richtung eines sicher zwanzig Jahre älteren, grauhaarigen Mannes mit Schnauzbart und einem kleinen Kinnbart vermuten. Sein verträumter Blick verriet, dass ihm gefiel, was er sah. »Egal, wer von uns versucht, ihn anzurufen, er meldet sich nicht«, berichtete die Frau weiter. »Und in seinem Zimmer ist er auch nicht.«
»Vielleicht möchte er im Augenblick einfach nur nicht gestört werden«, gab Alexandra zu bedenken und drehte sich zu Tobias um. »Oder was meinst du dazu?«
»Ich weiß nur, dass sein Bett letzte Nacht nicht benutzt worden ist und der teure Wagen unverschlossen auf dem Parkplatz steht. Und der Zündschlüssel steckt. Warum steigt Wilden aus dem Auto aus, lässt den Schlüssel stecken und kehrt dann nicht in sein Zimmer zurück?«
Alexandra dachte kurz darüber nach. »Woher wissen wir denn, dass er auf den Parkplatz gefahren, ausgestiegen und dann zum Haus gegangen ist? Vielleicht hat er ja auch kurz vor dem allgemeinen Zubettgehen das Hotel verlassen, weil ihn jemand abholen wollte, ist zu seinem Wagen gegangen, hat irgendwas rausgenommen oder reingelegt, und als sein Bekannter oder seine Bekannte kam, um ihn abzuholen, hat er nicht mehr an den Schlüssel gedacht und ist in den anderen Wagen eingestiegen und weggefahren.«
»Wer soll ihn denn abends noch abholen?«, wunderte sich Tobias.
Sie schnaubte frustriert. »Ich kenne den Mann so gut wie gar nicht. Woher soll ich das also wissen? Ich überlege nur, was gestern Abend geschehen sein könnte.« Dann drehte sie sich um. »Was ist eigentlich mit Kater Brown los? Seit wir hier draußen sind, meckert er am laufenden Band.« Sie winkte dem Kater zu, der sich auf den Rand des Ziehbrunnens gesetzt hatte und in regelmäßigen Abständen miaute. Dabei ließ er Alexandra nicht aus den Augen. »Man könnte fast meinen, dass er nach mir ruft.«
»Sieh an«, scherzte Tobias. »Es gibt ja doch Männer, auf die du hörst, wenn sie dich rufen.«
»Wenigstens hat Kater Brown nicht ständig einen blöden Anmacherspruch drauf«, rief sie über die Schulter zurück.
Gerade als sie den Kater erreicht hatte, balancierte er über die großen, unregelmäßig geformten Steine des Randes auf die andere Seite des Brunnens und miaute weiter. Sobald Alexandra ihm folgte, verließ er seinen Platz und kehrte wieder zu seinem Ausgangspunkt auf der gegenüberliegenden Seite zurück. Dieses Schauspiel wiederholte sich einige Male.
»Wenn du so weitermachst, kommst du nie mehr zu den Streicheleinheiten. Ich müsste mich schon über den Brunnen beugen, und ich habe keine Lust, dass ich …« Sie verstummte, als sie sich tatsächlich ein Stück über den Brunnenrand lehnte und ihr Blick nach unten in den dunklen Schacht fiel. Für einen Moment meinte Alexandra, auf dem Grund des Brunnens schemenhaft eine Gestalt zu sehen, und sie wurde von einem so eigenartigen Gefühl gepackt, dass sie nach ihrem Handy griff, den Zoom betätigte und auf gut Glück in die Tiefe fotografierte.
Schließlich sah sie sich das Foto an und erstarrte mitten in der Bewegung.
»Stimmt was nicht?«, rief Tobias ihr zu und kam näher.
»Ich glaube, ich weiß, wo Herr Wilden geblieben ist«, sagte sie leise und zeigte in den Brunnenschacht.
6. Kapitel
Nachdem ein paar starke Taschenlampen herbeigeschafft worden waren, standen Alexandra und Tobias Seite an Seite am Rand des Brunnens und schauten gemeinsam mit Bruder Johannes in den Schacht. Zwei andere Mönche hielten je zwei Lampen nach unten gerichtet, damit die Lichtkegel für genügend Helligkeit sorgten.
»Herr Wilden?«, rief Bruder Johannes zunächst so leise, als hätte er Angst, einen Schlafenden zu wecken, wurde dann aber lauter und lauter. Als Wilden keine Reaktion zeigte, schüttelte der Mönch besorgt den Kopf und sah zu Alexandra. »Er ist wohl tot, nicht wahr?«
Sie atmete tief durch, dann nickte sie. »So sieht es aus … oder … oder was meinst du, Tobias?«
»Ich glaube nicht, dass man den Kopf so sehr anwinkeln kann«, antwortete er, »es sei denn, das Genick ist gebrochen.«
»Ich auch nicht«, stimmte sie ihm bedrückt zu. »Doch falls er noch lebt, kann er von Glück reden, dass der Brunnen nicht mehr in Betrieb ist, sonst wäre er da unten längst ertrunken. Möchte wissen, wie Wilden da reingeraten ist.«
»Vielleicht war der Brunnen ja das Einzige, wo er seine Nase noch nicht reingesteckt hatte, und das wollte er unbedingt nachholen«, sagte Tobias und ließ im nächsten Moment ein verdutztes »Autsch!« folgen, da Alexandra ihm mit der Faust gegen den Oberarm geschlagen hatte. »Was soll denn das?«
»Da unten ist wahrscheinlich kürzlich ein Mensch zu Tode gekommen, und du hast nichts Besseres zu tun, als deine dämlichen Witze zu reißen!« Sie drehte sich wieder zu Bruder Johannes um, der Tobias auch vorwurfsvoll betrachtete. Dabei bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass die anderen Mönche eine Art Menschenkette gebildet hatten, um die übrigen Gäste daran zu hindern, ebenfalls einen Blick in den Brunnen zu werfen. Dass sie und Tobias aus erster Hand das Geschehen mitverfolgen durften, war Bruder Johannes’ Entscheidung zu verdanken, ihnen freien Zugang zu gewähren.
»Der Notarzt ist alarmiert?«, fragte sie den Mönch.
Er nickte.
»Tja, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als zu warten«, meinte Tobias. »Falls Wilden noch lebt, aber schwer verletzt ist, würden wir ihm unter Umständen mehr schaden als helfen, wenn wir selbst versuchten, ihn da rauszuholen. Da müssen Fachleute ran.«
Es verstrichen noch einmal zehn Minuten. Inzwischen war eine halbe Stunde vergangen, seit der Notruf gewählt worden war. Alexandra hatte sich vom Brunnen zurückgezogen und auf eine Holzbank gesetzt, auf der Kater Brown hockte und das Treiben aufmerksam verfolgte. Nachdem es ihm gelungen war, Alexandra auf seinen Fund aufmerksam zu machen, hatte er sich auf der Bank niedergelassen, als wäre seine Arbeit erledigt. »Das hast du gut gemacht«, raunte Alexandra ihm zu, damit Tobias sie nicht hörte. Er würde sich nur wieder über sie lustig machen, weil sie sich mit Kater Brown »unterhielt«.