Sie hatte selbst erlebt, wie respektlos und verächtlich Bernd Wilden sich seinen Mitmenschen gegenüber verhalten hatte. Mit Sicherheit hatte er sich viele Feinde gemacht.
Einer der Mönche kam zu ihnen und reichte Bruder Johannes eine Decke. Er stand auf und breitete sie über dem Toten aus.
»Der Kollege fordert den Leichenwagen an«, sagte der Sanitäter namens Buchner. »Mit den Leuten regeln Sie die weiteren Formalitäten. Wir sind für Tote halt nicht zuständig.«
Bruder Johannes hielt einen Moment inne. »Die Polizei muss doch sicher auch noch gerufen werden, oder nicht?«
»Die ist bereits informiert«, versicherte Buchner ihm. Kaum hatte er ausgesprochen, tauchte auf der Landstraße auch schon ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene auf, der sich zügig dem Kloster näherte.
Während die Rettungssanitäter in ihren Wagen stiegen und ein Stück zurücksetzten, kam der Polizeiwagen auf den Platz vor dem Brunnen gefahren. Ein Polizist in Uniform stieg aus, ein Mann um die vierzig, mit mittelblonder Kurzhaarfrisur, die gleich darauf unter der Dienstmütze verschwand.
»Guten Tag, Bruder Johannes.« Er gab dem Mönch die Hand und nickte Dr. Randerich zu. »Ich bin hergekommen, so schnell ich konnte. Was ist denn passiert?«
»Guten Tag, Herr Pallenberg. Einer unserer Gäste, Herr Bernd Wilden«, der Mönch deutete auf die unter dem Tuch liegende Gestalt, »ist im Brunnen tot aufgefunden worden.«
Der Polizeibeamte sah von einem zum anderen. »Wer hat den Mann gefunden?«
»Ich, mithilfe von Kater Brown«, antwortete Alexandra und trat ein Stück näher.
»Das sind Frau Berger und Herr Rombach«, stellte Bruder Johannes sie beide vor. »Sie sind Gäste in unserem Haus.«
»Polizeiobermeister Pallenberg.« Der Polizist reichte ihnen die Hand. »Mithilfe von Kater Brown?«, hakte er nach. »Wie soll ich das verstehen?« Als Alexandra ihm schilderte, was sich zugetragen hatte, musste er trotz der ernsten Angelegenheit schmunzeln. »Das ist ja unglaublich! Sie sollten versuchen, ihn als Trüffelschwein einzusetzen, Bruder Johannes. Vielleicht lässt sich mit dem Kater ja ein Vermögen machen.« Sofort wurde er wieder ernst. »Kann ich?«, fragte er, hockte sich hin und hob die Decke hoch, um die Leiche zu begutachten. »Hm«, machte er und zog Einweghandschuhe aus der Jackentasche. Nachdem er sie recht mühsam übergestreift hatte, drehte er den Kopf des Toten einmal in die eine und dann in die andere Richtung. Dann schüttelte er den Kopf, erhob sich und trat zu Dr. Randerich, um sich kurz mit ihm zu unterhalten.
»Ziemlich klarer Fall, denke ich«, erklärte Pallenberg schließlich. »Der Mann ist allem Anschein nach in den Brunnen gestürzt. Dabei hat er sich diese Verletzungen zugezogen, die zu seinem Tod geführt haben.«
»Und wenn er gestoßen wurde?«, wandte Alexandra ein.
Die Umstehenden schauten sie erschrocken an.
Der Polizist runzelte die Stirn. »Warum sollte ihn jemand gestoßen haben?«
»Ich sage ja nicht, dass ihn jemand gestoßen hat«, stellte sie klar. »Ich meine nur, dass es möglich ist. Jedenfalls finde ich, dass man diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen sollte.«
»Entschuldigen Sie, Frau …«
»Berger«, antwortete sie. »Alexandra Berger.«
»Ja, Frau Berger. Was machen Sie beruflich?« Pallenbergs Stimme war anzuhören, dass er sich bemühte, nicht aufzubrausen.
»Ich bin Reisejournalistin.«
»So, so.« Er nickte nachdenklich. »Hm, wenn ich so darüber nachdenke, sollten Sie im Augenblick untersuchen, was hier den Touristen geboten wird. Aber es ist ganz sicher nicht Ihre Aufgabe, sich in die Arbeit der Polizei einzumischen, von der Sie keine Ahnung haben.«
»Prinzipiell muss ich Ihnen recht geben, allerdings besteht der Unterschied darin, dass ich durch diesen Zwischenfall von meiner Arbeit abgehalten werde – während ich bei Ihnen das Gefühl habe, dass Ihre Arbeit etwas ist, das Sie von etwas Angenehmerem abhält.«
»Okay, Miss Spitzfindigkeit, ich werde Ihnen jetzt mal erzählen, wie das hier läuft«, antwortete er. »Es spricht alles für einen Unfall und sehr, sehr wenig für eine andere Todesursache, wie mir Doktor Randerich soeben bestätigt hat. Wie Sie sehen, versehe ich momentan meinen Dienst völlig allein, was eigentlich gegen die Vorschriften verstößt. Aber weil sich heute in Trier ein paar Demonstranten die Beine vertreten müssen, ist jeder irgendwie abkömmliche Beamte hier aus der Gegend abgezogen worden. Die Jungs von der Spurensicherung stehen ebenfalls nicht zur Verfügung. Der Gerichtsmediziner liegt nach einem Motorradunfall mit ein paar Knochenbrüchen im Krankenhaus, und sein Vertreter aus Hückelhoven war eben nicht erreichbar, weil sein Team und er zu einer Flussleiche gerufen worden sind. Ich kann also im Augenblick gar nichts tun. Ich verfüge weder über die Ausrüstung, um Spuren zu sichern, noch bin ich in der Lage, den Knaben da zu sezieren, um festzustellen, ob ihn womöglich irgendjemand mit einem Kissen erstickt oder ihm K.-o.-Tropfen verabreicht hat, um ihn anschließend in den Brunnen zu werfen.«
»Das heißt, Sie erklären einen Todesfall einfach so zum Unfall? Ich kann es gar nicht fassen, dass ich das tatsächlich höre«, sagte sie und sah zu Tobias, von dem sie eigentlich Unterstützung erwartet hätte. Doch er stand nur schweigend da.
Pallenberg seufzte. »Wie gesagt, vor Montag habe ich keine Hilfe von der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung zu erwarten.«
»Bis dahin könnte ein Täter doch längst über alle Berge sein, und zwar im wörtlichen Sinn«, gab Alexandra zu bedenken. »Sie können doch kein Interesse daran haben, ein solches Risiko einzugehen.«
Pallenberg ließ sich von ihren Worten nicht beeindrucken. »Noch einmal, Frau Berger: Ob es mir gefällt oder nicht – im Augenblick sind mir einfach die Hände gebunden, da Spusi und Gerichtsmedizin anderswo im Einsatz sind. Bitte akzeptieren Sie das!«
»Ja, aber Sie müssen doch irgendwas unternehmen. Wenn ihn jemand umgebracht hat …«
Der Polizist bedeutete ihr mit einer wirschen Handbewegung zu schweigen. »Dann verraten Sie mir doch mal, welches Motiv jemand gehabt haben sollte, diesen Mann umzubringen!«
»Es ist doch nicht meine Aufgabe, nach den Motiven zu suchen!«
Pallenberg zuckte mit den Schultern, ging auf ihre Bemerkung aber gar nicht weiter ein. »Ich werde nun eine Reihe von Fotos machen, die der Spurensicherung hoffentlich weiterhelfen werden, und dann kommt unser Toter in die Kühlkammer. Sobald sich einer der Polizeimediziner um ihn kümmern kann, wird das passieren, und dann wird sich ja zeigen, ob wir es mit einem Mord zu tun haben.«
»Und es stört Sie nicht, dass Sie möglicherweise einen Mörder entwischen lassen?«
»Wen soll ich denn festnehmen? Jeden, der Ihrer Meinung nach etwas mit dem Tod des Mannes zu tun haben könnte?«, fragte er ironisch. »Vielleicht sollte ich dann das Kloster beschlagnahmen. Auf der Wache habe ich nämlich nur eine Zelle für zwei Personen zur Verfügung.«
»Sie müssen sich nicht über mich lustig machen!«
»Dann erzählen Sie mir nicht, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe. Ich muss mich bei meinem Vorgesetzten rechtfertigen.«
Mit diesen Worten ging er zu seinem Wagen, telefonierte kurz und kam wenig später mit einer Digitalkamera zurück zu der Gruppe. Dann fotografierte er den Toten und den Brunnenschacht sorgfältig aus den unterschiedlichsten Winkeln. Als er fertig war, sagte er zu Dr. Randerich: »Der Leichenwagen ist angefordert. Würden Sie noch auf ihn warten? Ich werde noch woanders gebraucht.«
Der Arzt nickte. »Kein Problem. Vorausgesetzt, es wickelt sich in der Zwischenzeit nicht wieder irgendein Raser um den nächsten Baum.«
Pallenberg nickte den Anwesenden knapp zu und ging zu seinem Wagen. Kurz darauf brauste er mit quietschenden Reifen in Richtung Landstraße davon.