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»Hey, Augenblick mal, ich packe den Toten nicht an!«

»Red keinen Blödsinn!«, konterte sie. »Ich möchte doch nur seine Taschen durchsuchen. Wenn sie Wilden erst mal in die Kühlkammer des Leichenschauhauses gebracht haben, kommen wir nicht mehr an ihn ran. Ich möchte aber sichergehen, dass er nicht irgendetwas bei sich trägt, das uns einen Hinweis auf den Täter geben könnte.«

»Zum Beispiel ein Zettel mit dem Namen seines Mörders? Oder dessen Visitenkarte?«, fragte Tobias mit einem mitleidigen Lächeln.

Alexandra hielt kurz inne und sah ihn an. »Wenn du vorhast, dich über jede meiner Bemerkungen lustig zu machen, kannst du meinen Vorschlag gleich vergessen. Bin gespannt, wie weit du allein kommst.«

»Hey, hey, ist ja schon gut! Ich hab’s nicht so gemeint.«

»Vielleicht ist da ja irgendetwas, das uns weiterhilft. Ein Zettel mit einer Uhrzeit und einem Treffpunkt oder eins dieser Streichholzheftchen aus einem Lokal hier aus der Gegend. Oder eine Quittung, die uns verrät, wo Wilden war, bevor er gestern Abend zum Kloster zurückgekommen ist. Falls er tatsächlich noch irgendwo anders war.«

Während Tobias hastig die Einweghandschuhe überstreifte, zog Alexandra aus der Hemdtasche einen Zettel, an dem etwas getrocknetes Blut klebte. Sie faltete ihn auseinander. Darauf waren verschiedene Posten addiert. Einige der Zahlen wurden durch einen Buchstaben ergänzt, der alles Mögliche bedeuten konnte.

»Und?«

»Keine Ahnung, was es damit auf sich hat«, antwortete sie. »Wenn ich die Zahlen addiere, komme ich auf ein anderes Ergebnis. Vermutlich stehen die einzelnen Positionen für irgendetwas, und es geht gar nicht um eine Addition …« Sie legte den Zettel zur Seite, dann gab sie Tobias ein Zeichen, ihr erst Wildens rechte und dann die linke Hosentasche aufzuhalten.

Sie förderte eine Geldbörse, eine Brieftasche, zwei verpackte Kondome und ein Päckchen Kaugummi zutage und steckte es in den Plastikbeutel. »Das ist alles«, erklärte sie. »Und wo ist sein Handy?«

»Vielleicht liegt es noch im Wagen«, überlegte er.

»Wer hat inzwischen den Schlüssel? Oder steckt der noch?«

»Nein, ich glaube, den hat Bruder Johannes an sich genommen, damit der Wagen nicht gestohlen wird.«

»Dann fragen wir ihn gleich danach, sobald der Leichenwagen Wilden abgeholt hat«, entschied sie. »Mit Bruder Johannes müssen wir sowieso noch reden. Wir sollten nämlich seine Erlaubnis einholen, bevor wir uns im Klosterhotel umhören.«

In diesem Moment näherte sich auf der Landstraße ein Leichenwagen und bog in die Zufahrt zum Klosterhotel ein. Zwei Männer in dunklen Anzügen stiegen mit ernster Miene aus. Tobias ging ihnen entgegen, unterhielt sich kurz mit ihnen und kam zu Alexandra zurück. »Wir können jetzt gehen, die Herren kümmern sich um alles Nötige. Wann sehen wir uns das an?« Er deutete auf den Plastikbeutel mit Wildens Besitztümern, den Alexandra in der Hand hielt.

»Damit beschäftigen wir uns später.« Sie dachte kurz nach. »Weißt du was? Ich lege die Sachen in meinen Wagen. Da kommt wenigstens kein Unbefugter dran. Wenn ich das in meinem Zimmer deponiere, bekomme ich vielleicht noch ungebetenen Besuch.«

»Meinst du, der Täter hätte nicht sofort dafür gesorgt, etwas Belastendes beiseitezuschaffen?«

»Vielleicht wurde er gestört und hatte dafür keine Zeit mehr. Das würde auch erklären, warum bei Wildens Wagen der Zündschlüssel noch steckte.«

»Hm«, machte Tobias, während er neben ihr her mit zu ihrem Auto ging. »Dann dürfte der Täter die Sache aber nicht von langer Hand geplant haben.«

»Mord im Affekt. Oder er ist mit seinem Plan von falschen Voraussetzungen ausgegangen«, hielt sie dagegen. »Vielleicht ist ihm Wilden an der falschen Stelle über den Weg gelaufen. Er musste daraufhin improvisieren, und anstatt ihn drüben am Brunnen niederzuschlagen, musste er ihm auf den Parkplatz nachlaufen. Und als er dann den bewusstlosen oder womöglich schon toten Wilden beseitigen wollte, näherte sich ihm jemand Drittes. Dann hat der Täter Wilden in aller Eile zum Brunnen geschafft und in den Schacht geworfen und ist danach ins Kloster zurückgekehrt, um nicht gesehen zu werden.«

Sie schloss den Kofferraum auf und versteckte die Habseligkeiten des Toten unter einer Decke.

»Also müssten wir herausfinden, ob sonst noch jemand so spät ins Kloster zurückgekehrt ist, der Gefahr lief, den Täter zu entdecken«, überlegte er. »Vielleicht hat dieser Jemand ja irgendetwas beobachtet.«

Seite an Seite verließen sie den Parkplatz. »Nicht unbedingt. Wenn Wilden sich mit jemandem verabredet hatte, mit dem er sich hier am Kloster treffen wollte, um danach mit ihm irgendwohin zu fahren, dann könnte sich der Täter von Bernd Wildens Bekanntem gestört gefühlt haben. Dieser Unbekannte hätte dann eine Weile auf Wilden gewartet und wäre irgendwann, als Wilden nicht am Treffpunkt erschien, unverrichteter Dinge wieder abgefahren.«

»Ich weiß nicht, Alexandra«, seufzte er. »Ich glaube, du machst da irgendwas verkehrt.«

»Wieso?«

»Na ja, normalerweise versucht der Kommissar bei einem Mordfall, den Täterkreis einzugrenzen. Du dagegen bringst immer noch mehr Leute ins Spiel, die mit Wildens Tod etwas zu tun haben könnten – wobei es ja nach wie vor reine Spekulation ist, dass hier überhaupt ein Verbrechen stattgefunden hat.«

»Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es ein Verbrechen war«, erwiderte sie. »Da passen einfach zu viele Dinge nicht zusammen.«

»Manchmal ist die simpelste Erklärung auch die richtige«, konterte Tobias. »Wilden ist zu seinem Wagen gegangen und hat gemerkt, dass er etwas vergessen hat. Daraufhin ist er zum Kloster zurückgelaufen, und weil er so in Eile war, ist er gestolpert und dann so unglücklich gefallen, dass er kopfüber in den Brunnenschacht gestürzt ist. Fertig. Unfall. Schluss. Aus.«

Alexandra lachte. »Also weißt du … Gut, dass du keine Krimis schreibst! Bei dir würde der ausgeklügeltste Mord nach zwei Seiten aufgeklärt, beispielsweise weil der Täter dummerweise eine Webcam übersehen hat und bei der Tat gefilmt worden ist. Der Kommissar konfrontiert ihn mit den Aufnahmen, der Täter gesteht. Fertig. Schluss. Aus. Und dann stehst du mit zweihundertachtundneunzig leeren Seiten da.«

»Platz genug für eine ausgiebige Sexszene zwischen dem Kommissar und der attraktiven Täterin.«

Alexandra verdrehte die Augen. »Warum sollten die beiden Sex haben?«

»Braucht man denn dafür einen Grund? Die beiden nutzen einfach die günstige Gelegenheit.«

Alexandra sparte sich jeden Kommentar. Sie nickte den Männern vom Beerdigungsinstitut zu, die den Toten in einen Metallsarg gebettet und in ihren Wagen geladen hatten und soeben abfuhren. Kater Brown lag nun dort, wo sich eben noch Wildens Leiche befunden hatte, und putzte sich ausgiebig, während er sich die Sonne auf den Rücken scheinen ließ.

Bei ihm angekommen, hockte sich Alexandra kurz hin, um den Kater zu streicheln. »Sieh mal«, sagte sie zu Tobias. »Je nachdem, wie die Sonnenstrahlen auf sein Fell fallen, sieht er gar nicht schwarz aus, sondern mehr dunkelbraun. Aber komm, lass uns jetzt zu Bruder Johannes gehen! Vielleicht kann er uns ja den einen oder anderen Tipp geben.«

Sie richtete sich auf, was Kater Brown offenbar als Aufforderung deutete, die Putzstunde zu unterbrechen. Jedenfalls sprang er auf und stellte sich so vor Alexandra hin, dass er sich gegen ihre Schienbeine drücken konnte.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte sie ihn und bückte sich, um ihm über den Kopf zu streicheln, doch Kater Brown machte bereits einen Satz nach oben, als wollte er ihr ein Stück entgegenkommen. Dann hatte er auch schon die Vorderpfoten um ihren Unterarm geschlungen. »Autsch«, rief sie leise, als sie die Krallen spürte, die sich glücklicherweise nur leicht in ihre Haut drückten. »Du willst wohl getragen werden, wie?«