Er hatte Alexandra die Leine so eng um die Beine gezogen, dass sie keinen Schritt mehr gehen konnte. »He, was ist denn in dich gefahren? Willst du, dass ich mir das Genick breche?«
Sie drehte sich um ihre eigene Achse, bis sie sich befreit hatte, und das nutzte der Kater, um noch ein Stück weiterzulaufen. Alexandra schüttelte nachdenklich den Kopf und ließ die Leine locker. Sie wollte herausfinden, was Kater Brown ihr nun schon wieder zeigen wollte. Sein Ziel war offenbar die Kapelle – eine Erkenntnis, die ihr plötzlich ein ungutes Gefühl in der Magengegend verursachte.
Alexandra griff nach ihrem Handy und wählte Tobias’ Nummer. »Komm mal schnell zur Kapelle! Ich glaube, unser Sherlock Brown ist auf eine neue Fährte gestoßen!«
Langsam folgte sie dem Kater zu der zweiflügeligen Holztür der Kapelle. Das kleine Gebäude war komplett mit einem mobilen Zaun umgeben, um Unbefugte am Betreten der Baustelle zu hindern.
»Was ist denn los?«, rief Tobias und kam herbeigelaufen.
»Der Kater dirigiert mich zielstrebig zur Kapelle«, entgegnete sie. »Das gefällt mir gar nicht.«
Alexandra sah sich den Zaun genauer an und entdeckte eine Lücke. »Hier ist ein Element aus dem Betonsockel gehoben worden. Jemand könnte diesen Abschnitt des Zauns wieder an den Sockel herangeschoben haben, nachdem er sich durch die Lücke gezwängt hat.«
»Du denkst an Assmann, nicht wahr?«
Sie nickte bedächtig und wurde mit einem Mal ganz blass. »Komm, lass uns nachsehen! Und dann rufen wir die Polizei. Das hätten wir vielleicht schon heute Morgen tun sollen.«
Kater Brown hatte sich einen Weg zwischen den Gitterelementen hindurch gebahnt und zog ungeduldig an der Leine. Endlich hatte er sie so weit, dass sie ihm folgten!
Tobias schob das Gitter zur Seite, sodass sie hinter die Absperrung und in die Kapelle gelangen konnten. Alexandra zog die Tür einen Spaltbreit auf und spähte ins Innere des kleinen Gotteshauses. Die hohen Fenster zu beiden Seiten der Kapelle waren zum Schutz mit einer lichtdurchlässigen Folie zugehängt worden. Im Innern der Kapelle war es beinahe taghell.
Alexandra hatte eben zwei Schritte in das Gotteshaus gemacht, als sie entsetzt aufschrie. Nicht einmal vier Meter vom Eingang entfernt lag eine gekrümmte Gestalt auf den dunkelroten Fliesen. Assmann! Sein Gesicht war ihnen zugewandt, die weit geöffneten Augen starrten ins Leere. Sein Hinterkopf präsentierte sich als eine einzige blutige Masse. Gleich daneben lagen die Überreste einer steinernen Statue, die vermutlich zuerst Assmanns Schädel zertrümmert hatte und dann auf dem Steinboden in tausend Stücke zersprungen war.
Alexandra hielt sich erschrocken eine zitternde Hand vor den Mund, während Tobias nur dastand und ungläubig den Kopf schüttelte. Auch er war unter der Sonnenbräune blass geworden.
Kater Brown setzte sich in einigem Abstand von dem Toten hin, blinzelte mehrmals und schaute sich dann mit leicht zusammengekniffenen Augen in der Kapelle um.
Nachdem Alexandra sich wieder ein wenig gefasst hatte, folgte sie seinem Beispiel. Schließlich legte sie den Kopf in den Nacken und sah nach oben. »Von da ist die Figur runtergefallen«, murmelte sie und zeigte auf die Empore. »Oder runtergestoßen worden.« Auf der Balustrade standen in gleichmäßigen Abständen Heiligenskulpturen; nur an einer Stelle klaffte eine Lücke.
Skeptisch schüttelte Tobias den Kopf. »Ich weiß nicht. Wie groß sind die Chancen, dass das Opfer von einer solchen Figur tatsächlich getroffen wird? Von einem tödlichen Treffer ganz zu schweigen. Überleg mal, von da oben konnte der Täter sein Opfer nicht einmal sehen. Es hätte sich schon unmittelbar unter ihm befinden müssen, damit er einen Treffer erzielen konnte, und es durfte sich auch nicht von der Stelle rühren. Aber Assmann wurde am späten Abend in die Kapelle gelockt. Da war es längst dunkel. Bestimmt hat er sich besonders vorsichtig hier bewegt und auf jedes Geräusch geachtet. Wenn eine Statue bewegt wird, knirscht es. Assmann wäre vorgewarnt gewesen …« Tobias schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, er ist hier unten niedergeschlagen worden.« Er sah mit zusammengekniffenen Augen zur Empore hinauf. »Guck mal, an der Stelle, wo die Steinskulptur gestanden hat, ragt ein großer Metallstift in die Höhe; damit war die Skulptur offenbar befestigt. Da ist jemand also ganz geplant vorgegangen und hat die Heiligenfigur im Vorfeld gelöst.«
Alexandra gab ihm die Leine, dann ging sie langsam hin und her. Ihr Blick war die ganze Zeit über auf den Boden gerichtet. »Zu schade, dass man nach der letzten Renovierungsrunde hier alles gefegt und gewischt hat, sonst könnten wir auf dem Boden wenigstens die Spuren des Täters zurückverfolgen.« Sie kniete sich hin. »Sieh dir das einmal an!«
Tobias kam zu ihr und ging neben ihr in die Hocke.
»Diese Fliese hier«, erklärte sie. »Sie ist zersplittert, als wäre etwas Schweres hier aufgeschlagen.«
Er schaute nach oben. »Das würde passen. Wenn man die Figur da oben über die Brüstung geschoben hat, hätte sie ungefähr hier landen können. Allerdings wurde Assmann einen Meter von hier entfernt von der Skulptur getroffen.«
Alexandra richtete sich auf und grübelte. »Das passt alles irgendwie nicht zusammen.« Sie ging die hölzerne Wendeltreppe hinauf, die auf die Empore führte, und betrachtete die Szene von oben. Nach ein paar Augenblicken kehrte sie zu Tobias zurück. »Vielleicht ist das Ganze hier extra so angeordnet worden, um den Eindruck zu erwecken, dass Assmann von der Steinskulptur getroffen wurde. Okay, das wurde er auch, das zeigt ja das Blut an den Bruchstücken. Aber ich würde sagen, er wurde bereits beim Eintreten niedergeschlagen. Dann hat der Täter ihn unter der Empore platziert …«
»Der Mörder hat die Figur also zuvor von der Empore nach unten geschafft, um damit auf Assmann einzuschlagen. Anschließend hat er sie wieder nach oben gebracht und von der Brüstung geworfen, um einen Unfall vorzutäuschen.«
»Aber dabei musste er Assmann unbedingt verfehlen, denn ihm war klar, dass eine Autopsie andernfalls zeigen würde, dass Kurt Assmanns Schädel von der Skulptur an zwei verschiedenen Stellen getroffen wurde. Und das hätte eine Unfalltheorie sofort ad absurdum geführt. Also lässt er die Figur da landen«, sie zeigte auf die zersplitterte Fliese, »anschließend sammelt er die Trümmer ein und arrangiert ein Stück weiter rechts eine Szene, die den Eindruck erweckt, als wäre Assmann unbefugt in die Kapelle eingedrungen und dabei von einer Heiligenskulptur tödlich getroffen worden.«
»Schön und gut«, meinte Tobias dazu. »Nur wäre die Polizei bestimmt spätestens bei der Entdeckung des Metallstifts da oben stutzig geworden. Schließlich springt so eine Statue nicht von selbst aus so einer Halterung.«
Alexandra hob die Schultern. »Das hier ist eine Baustelle. Hier hat niemand außer den Bauarbeitern etwas zu suchen, also muss die Figur auch nicht gut gesichert auf diesem Stift gestanden haben. Jemand kann sie hochgenommen haben, weil sie im Weg war, und dann nicht wieder richtig zurückgesetzt haben. So ließe sich die Unfalltheorie vielleicht doch untermauern.«
Tobias seufzte und nickte dann. »Du hörst dich schon an wie Polizeiobermeister Pallenberg.«
Sie grinste schief. Ihr Blick fiel auf Assmanns Leiche, und ein Schauder überlief sie. »Komm, wir müssen den Mönchen Bescheid geben, dass es einen weiteren Toten gibt. Ich überlasse es gern ihnen, die Polizei zu verständigen.«
Als sie sich zum Gehen wandten, stand Kater Brown auf und lief mit hoch erhobenem Kopf vor ihnen her in Richtung Tür.
»Lass dir das Leichenfinden bloß nicht zur Gewohnheit werden«, murmelte Tobias bedrückt. »Zwei Tote sind für meinen Geschmack mehr als genug.«
Der Kater warf ihm über die Schulter einen Blick zu, dann miaute er leise, als wollte er ihm aus vollstem Herzen zustimmen.
18. Kapitel