Es war bereits nach vierzehn Uhr dreißig am Sonntagnachmittag, aber Polizeiobermeister Pallenberg war noch immer nicht am Tatort eingetroffen. In der Zwischenzeit waren Alexandra und Tobias an den Fundort von Assmanns Leiche zurückgekehrt, um sich dort noch einmal in Ruhe umzusehen. Kater Brown hatte sie begleitet, denn Alexandra hatte sich vorgenommen, das Tier nicht einmal für eine Minute aus den Augen zu lassen. Sie wussten nicht, wer für die beiden Morde und den Giftanschlag auf den Kater verantwortlich war. Und solange das so war, würde sie alles tun, um das Leben ihres kleinen pelzigen Freundes zu beschützen. Und falls der Mörder nicht gefasst wurde, war sie fest entschlossen, die Mönche davon zu überzeugen, ihr Kater Brown zu überlassen.
Mit Einweghandschuhen ausgerüstet, hatten sie den Toten abgetastet und dabei feststellen müssen, dass er kein Handy bei sich trug. Das war auch zu erwarten gewesen, immerhin war es wahrscheinlich, dass Assmann selbst per Anruf oder SMS in die Falle gelockt worden war.
Gerade wollte Alexandra nach draußen gehen, um nach Pallenberg Ausschau zu halten, als die Tür aufgezogen wurde.
Bruder Johannes trat zu ihnen. Er war kreidebleich. »Es gibt einen weiteren Todesfall? Oh, mein Gott! Bruder Andreas hat mich gerade erst informiert. Zum Glück sind Sie beide wohlauf! Dem Himmel sei Dank!« Er bückte sich zu Kater Brown, um ihn zu streicheln, aber seine Hand zitterte so sehr, dass er sie wieder zurückzog. »Dir geht es wenigstens wieder gut.« Bruder Johannes’ Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, doch gleich darauf kehrte der besorgte Gesichtsausdruck zurück. »Bruder Andreas konnte mir nichts Genaues sagen, er wusste nur, dass es noch einen Toten gegeben hat, und hat die Polizei informiert …« Er stutzte und sah sich um. »Ist Herr Pallenberg etwa schon wieder abgefahren?«
»Nein, nein. Er ist bislang noch gar nicht aufgetaucht.« Tobias trat einen Schritt zur Seite und gab damit den Blick auf den Toten frei, der in der Nähe der letzten Bankreihe auf dem Boden lag.
Bruder Johannes trat langsam näher und wurde womöglich noch blasser. »Herr Assmann?«, entfuhr es ihm entsetzt, und er stöhnte auf. Er wankte nach links und ließ sich auf die Holzbank sinken. »O Gott, hätte ich ihm doch bloß nicht die Tür aufgeschlossen!«
»Die Tür aufgeschlossen?«, wiederholte Alexandra und fröstelte mit einem Mal. »Wie meinen Sie das?«
Der Mönch fuhr sich fahrig mit der Hand durchs Gesicht. »Herr Assmann kam gestern Abend spät zu mir. Sie waren mit Kater Brown auf dem Weg zum Tierarzt, und er hatte die Unterredung mit seinen Mitarbeitern beendet. Alle waren in ihren Quartieren, das Licht war ausgeschaltet worden, als er auf einmal bei mir klopfte und darauf bestand, dass ich ihm die Eingangstür aufschloss. Er sagte, er müsse noch mal weg. Er wollte mir den Grund nicht verraten. Aber er war sehr … Ich weiß gar nicht, wie ich es am besten beschreiben soll … ›Ungeduldig‹ trifft es vielleicht am besten. So als hätte er einen Termin vergessen und müsste sich nun ganz besonders sputen.«
»Um wie viel Uhr war das?«, wollte Alexandra wissen.
»Oh, lassen Sie mich nachdenken … Auf jeden Fall nach elf. Die Lichter waren schon eine Weile aus, und ich hatte mich in mein Zimmer zurückgezogen und saß in der Dunkelheit. Einschlafen konnte ich nicht, weil ich immer an Kater Brown denken musste. Außerdem wartete ich ja auf Ihre Rückkehr und wollte Ihnen aufschließen. Ich hatte Bedenken, Herrn Assmann um diese Zeit noch aus dem Haus zu lassen. Ehrlich gesagt hatte ich auch keine Lust, die halbe Nacht auf ihn zu warten, um ihm wieder aufzuschließen. Aber er beharrte darauf und wischte meine Bedenken beiseite.«
»Zu seinen Plänen hat er wirklich nicht mehr gesagt?«
»Nein, und ich habe ihn auch nicht danach gefragt. Er wollte bei seiner Rückkehr einen seiner Kollegen mit dem Handy aus dem Bett klingeln. Der sollte mich dann wecken.« Bruder Johannes hob hilflos die Schultern. »Ich gab seinem Drängen nach und ließ ihn raus. Er blieb dann in der Nähe des Brunnens stehen und sah zur Straße hinüber, als wartete er auf jemanden. Ein paar Minuten beobachtete ich ihn, wie er unruhig auf und ab ging. Aber dann hatte ich einfach keine Lust mehr, für ihn das Kindermädchen zu spielen.«
Tobias nickte verständnisvoll, und Bruder Johannes fuhr bedrückt fort:
»Nach einer Weile kehrte ich also in mein Zimmer zurück, aber die Unruhe wegen Kater Brown hielt mich weiter wach. Ich begab mich wieder ins Foyer, um Sie hereinzulassen und nach Herrn Assmann zu sehen. Als ich ins Foyer kam, stand er nicht mehr draußen auf dem Platz am Brunnen. Ich ging davon aus, dass derjenige, mit dem er sich treffen wollte, in der Zwischenzeit eingetroffen und mit ihm weggefahren war. Irgendwann sah ich die Lichter Ihres Wagens auf dem Parkplatz … und den Rest kennen Sie ja. Wenn ich geahnt hätte, dass Assmann sich in die Kapelle begibt … Was hat er hier wohl gesucht?«
»Schwer zu sagen«, meinte Alexandra. »Wir vermuten, dass man ihn mit irgendetwas geködert hat, vielleicht mit einem Beweisstück, das Wildens Mörder hätte überführen können.«
»Aber warum tötet jemand einen Geschäftsführer und seinen Stellvertreter?«, rätselte Bruder Johannes.
»Dieser zweite Todesfall untermauert unseren Verdacht, dass der Täter in den Reihen seiner Mitarbeiter zu suchen ist. Am ehesten kommt einer der leitenden Angestellten infrage, weil sie von Assmanns Tod profitieren würden. Immerhin hätte er wahrscheinlich die Nachfolge von Wilden angetreten, und damit wäre der Posten auf Jahre hinaus besetzt gewesen. Da Assmann jünger war als alle anderen potenziellen Kandidaten, hätte keiner von ihnen mehr die Chance bekommen, vor ihrer Pensionierung doch noch ein paar Jahre als Geschäftsführer tätig zu sein.«
»Und … wenn Herr Pallenberg wieder genauso reagiert wie bei Herrn Wilden?«, fragte der Mönch beunruhigt. »Wenn er diesen Todesfall auch zum Unfall erklärt, und niemand nimmt irgendwelche offiziellen Ermittlungen auf …«
Alexandra hob ratlos die Schultern. »Wir können Pallenberg nur die Fakten vorlegen, alles Weitere hängt wohl von ihm ab. Aber ich denke, die Indizienlage wird diesmal ausreichen, um ihn …«
Ein lautes Knattern unterbrach Alexandra mitten im Satz. Bruder Johannes horchte auf, und auch Kater Brown spitzte die Ohren.
Alexandra und Tobias gingen mit dem Kater zur Tür und drückten sie weit genug auf, um einen Blick nach draußen werfen zu können.
»Was ist denn das?«, fragte sie erstaunt, als sie den Polizisten entdeckte, der auf einem schwarzen Fahrrad mit Hilfsmotor gleich unter dem Lenker den Weg vom Klostereingang zur Kapelle entlangfuhr. Die Dienstmütze hatte er sich tief ins Gesicht gezogen, wohl damit der Fahrtwind sie ihm nicht vom Kopf wehen konnte.
»Das ist eine Solex«, klärte Tobias sie auf. »Eigentlich ein Mofa, aber viel, viel billiger als das günstigste ›richtige‹ Mofa, jedenfalls zu der Zeit, als die Dinger noch gebaut wurden. Als ich zur Schule ging, war es total cool, mit so einer Solex vorgefahren zu kommen …«
Pallenberg hatte das Mofa inzwischen abgestellt und näherte sich der Tür. Tobias’ Blick fiel auf einen knallroten Benzinkanister, der vor einer Polizeitasche auf dem Gepäckträger festgeklemmt war.
Der Polizist nickte ihnen zu und ging mit ernstem Gesicht an ihnen vorbei zu Assmanns Leiche.
Bruder Johannes stand von der Bank auf. »Guten Tag, Herr Pallenberg. Danke, dass Sie hergekommen sind.«
»Bruder Johannes«, erwiderte der Polizeiobermeister und drückte ihm die Hand. »Tja, schneller ging’s leider nicht. Mein Dienstwagen ist nach zwei Kilometern mit leerem Tank liegen geblieben, weil die Tankanzeige verrückt spielt. Also musste ich meine gute alte Solex aus der Scheune holen. Gleich muss ich dann weiterfahren zu Jean-Louis und einen Kanister Benzin holen, damit ich mit dem Wagen bis zur Tankstelle komme.« Damit wandte er sich dem Toten zu. Er betrachtete ihn einen Moment schweigend. »Um wen handelt es sich? Können Sie mir das sagen?«