Tobias nickte kurz. Seine Wangen waren gerötet, und er schien genauso aufgeregt wie Alexandra zu sein. Mit angehaltenem Atem spielte er den Rest der Aufnahme ab. »Nichts«, sagte er entmutigt, als aus den Lautsprechern des Laptops nur ein regelmäßiges leises Klicken drang.
»Geh weiter zurück!«
Schritt für Schritt wanderte Tobias rückwärts, wechselte von zwei-auf fünfminütige Intervalle, schließlich ging er auf zehn Minuten. Alexandra fürchtete bereits, dass die Diktierfunktion sich nur versehentlich aktiviert hatte und es gar nichts zu hören geben würde, als auf einmal Geräusche aus den Lautsprechern ertönten, die sie zuerst nicht zuordnen konnte. Was war das? Es klang wie ein unterdrücktes Ächzen, dann wie ein Knirschen auf sandigem oder steinigem Boden.
»Das sind nur ungefähr zehn Minuten«, merkte Tobias an. »Ich spiele die Aufnahme von Anfang an ab.«
Die Wiedergabe begann. Tobias und Alexandra lauschten gebannt. Alexandra wagte gar nicht zu atmen, während Kater Brown auf ihrem Schoß lag und im Schlaf leise schnaufte.
Eine Gänsehaut kroch ihr den Rücken hinunter, und sie suchte fassungslos Tobias’ Blick. Nach gut zehn Minuten ertönten wieder die Ächz-und Knirschlaute. Sie ergaben nun einen grauenhaften Sinn. Alexandra atmete schockiert aus. »Oh Mann!«
»Das kannst du laut sagen«, murmelte Tobias erschüttert und schluckte mehrmals. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, und er schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf.
»Hätten wir Wildens Handy schon gestern Morgen entdeckt, würde Assmann jetzt noch leben«, flüsterte sie.
»Was machen wir denn jetzt?«
»Wir rufen Pallenberg an«, entschied sie. »Er muss sofort zurück zum Kloster kommen.«
19. Kapitel
Es war neunzehn Uhr am Sonntagabend, als sich alle im Saal III versammelt hatten. Die Mönche saßen auf den Stühlen links des Mittelgangs, die Hotelgäste auf der rechten Seite. Polizeiobermeister Pallenberg hatte neben dem Rednerpult Platz genommen. Alexandra und Tobias standen am Pult, vor sich den Laptop, der mit der Lautsprecheranlage des Saals verbunden war. Nach Absprache mit dem Polizeiobermeister waren sie übereingekommen, die Aufnahme allen vorzuspielen, die sich an diesem Wochenende im Klosterhotel aufgehalten hatten.
Kater Brown lag auf einem Beistelltisch in der Nähe. Er hatte die Pfoten eingeklappt und musterte die Anwesenden aus unergründlichen grünen Augen. Seine flaumigen schwarzen Ohren zuckten von Zeit zu Zeit leicht.
Alexandra hatte sich nach der ungeheuerlichen Entdeckung, die sie gemacht hatten, endlich wieder so weit gefasst, dass sie ruhig und sachlich sprechen konnte. »Guten Abend«, begrüßte sie die Anwesenden mit lauter, klarer Stimme. »Danke, dass Sie alle hergekommen sind. Wir danken auch Herrn Pallenberg, der inzwischen wie wir davon überzeugt ist, dass nicht nur Herr Assmann, sondern auch Herr Wilden umgebracht wurde.«
»Wir haben in den letzten zwei Tagen sehr viele Theorien durchgespielt«, ergriff Tobias das Wort. »Und wir mussten dabei feststellen, dass einige Personen in diesem Raum ein mehr oder weniger ausgeprägtes Motiv hatten, sowohl Herrn Wilden als auch Herrn Assmann aus dem Weg zu räumen. Zunächst hatten wir Kurt Assmann auch im Verdacht, weil er durchaus Bestrebungen gehabt haben könnte, Herrn Wildens Platz einzunehmen. Nach Assmanns Tod allerdings mussten wir uns von dieser Theorie verabschieden. Aber es waren ja immer noch genug Tatverdächtige übrig, dass wir nicht mal mit Sicherheit sagen konnten, ob für beide Morde ein Täter verantwortlich war oder ob vielleicht bloß jemand die Gelegenheit genutzt hatte, Herrn Assmann zu töten und den Verdacht auf Bernd Wildens Mörder zu lenken.«
»Wollen Sie jetzt Agatha Christie nachspielen und jedem von uns ausführlich darlegen, aus welchem Grund er Wilden und Assmann ermordet haben könnte?«, warf Kramsch ungehalten ein. »Ich finde, es ist eine Unverschämtheit, dass Sie Verdächtigungen aussprechen, die an Rufmord grenzen.«
»Herr Kramsch, ich wüsste nicht, dass wir Sie als Tatverdächtigen bezeichnet hätten«, erwiderte Alexandra ruhig.
»Ich habe das nicht nur auf mich bezogen, sondern auf alle meine Kollegen!«
»Oh, aber Sie müssen doch zugeben, dass das Nachrücken auf einen begehrten Geschäftsführerposten durchaus ein Motiv für einen Mord darstellen könnte.«
»Vielleicht in Ihrer verdrehten Welt«, konterte Kramsch, dessen Gesicht vor Ärger gerötet war. Alexandra beschloss, sich nicht weiter auf eine so fruchtlose Diskussion einzulassen. »Meine Damen und Herren, wir möchten Sie nicht mit einer langatmigen Zusammenfassung unserer Überlegungen langweilen, und wir möchten Sie auch nicht unnötig auf die Folter spannen. Stattdessen werden wir Ihnen ein Tondokument vorspielen, das erst heute Nachmittag in unseren Besitz gelangt ist.«
Sie trat an den Laptop und tauschte einen raschen Blick mit Herrn Pallenberg. »Die Wiedergabe der Aufzeichnung beginnt jetzt.«
Bruder Johannes, auf dessen Gesicht sich vor Aufregung rote Flecken gebildet hatten, hob schließlich eine Hand. »Wenn Sie gestatten, Frau Berger, Herr Rombach, würden meine Brüder und ich noch gern ein Gebet sprechen und den Herrn bitten, mit dem Täter Nachsicht zu üben.«
Alexandra und Tobias nickten.
Wenig später klickte Alexandra das Start-Symbol an.
»Aktennotiz vom Zwanzigsten des Monats, zweiundzwanzig Uhr und zehn Minuten. Assmann daran erinnern, dass Direktor Magnussen von der Sparkasse eine gesonderte Spendenquittung für sein besonderes Engagement in der Sache erhält«, ertönte Wildens Stimme aus den Lautsprechern. Die Köpfe einiger seiner früheren Mitarbeiter ruckten hoch, und Yasmin Tongers Augen weiteten sich erschrocken. Im Hintergrund hörte man das leise Rauschen des Windes, der sich in Baumkronen verfing. »Außerdem eine Quittung an Frau Ho …«
»Da sind Sie ja, Herr Wilden«, erklang da eine vertraute, aber ungewöhnlich energische Stimme. »Haben Sie alle Vorbereitungen getroffen, um Ihren teuflischen Plan in die Tat umzusetzen?«
»Bruder Johannes? So spät noch unterwegs?« Ein Klacken ertönte – offenbar war dies der Moment, da das Handy in den Spalt zwischen Sitz und Mittelkonsole gerutscht war.
Ein Raunen wurde im Saal laut, und die Blicke der Anwesenden wanderten zu Bruder Johannes hinüber, der mit gesenktem Kopf reglos auf seinem Platz saß. Nur seine ineinander verkrampften Hände, deren Knöchel sich weiß unter der Haut abzeichneten, verrieten seine innere Anspannung.
»Ich habe Sie etwas gefragt!«
»Es ist kein teuflischer Plan. Reden Sie nicht einen solchen Unsinn, Bruder Johannes!«, widersprach ihm Wilden in der ihm eigenen ruppigen Art. »Sie haben sich von Ihrer Bank etwas aufschwatzen lassen, um Ihr geliebtes Kloster zu retten, und dabei ist nichts Besseres herausgekommen als ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene. Mit diesem lächerlichen Hotelkonzept werden Sie in einem halben Jahr auf Grund laufen. Dieser Quatsch, den Leuten um zehn Uhr abends das Licht abzustellen und ihnen das Mittagessen vorzuenthalten, um sie an die armen, hungernden Kinder in Afrika zu erinnern, zieht ein Mal. Aber von Ihren Gästen werden bestenfalls zehn Prozent wiederkommen. Ich habe das Konzept unseren vier Hausbanken vorgelegt, und alle sind der gleichen Meinung.«
»Mich interessiert die Meinung dieser Banker nicht …«
»Sie wird Sie spätestens dann interessieren, wenn die Gäste wegbleiben und Ihre Bank die nächste Rate fordert.« Wilden lachte spöttisch. »Dann greift sich die Bank Ihr schönes Kloster, und Sie sitzen auf der Straße.«