Alexandra konnte nun nicht mehr anders, sie musste laut lachen. Sie musterte Wilden von oben bis unten, und einmal mehr stellte sie fest, dass der Napoleon-Komplex nicht bloß ein Mythos war. »Wissen Sie was?«, sagte sie. »Sie können mich mal gernhaben, Sie kleiner Wichtel!« Damit drehte sie sich um, lächelte dem Mönch noch einmal zu und machte sich auf den Weg ins Foyer. Sie hatte vor, sich dort nach Bruder Johannes zu erkundigen, der ihr als Ansprechpartner genannt worden war, um sie mit Hintergrundinformationen zum Hotel zu versorgen. Am Empfang arbeitete mittlerweile ein anderer, etwas jüngerer Mönch. Das dunkelbraune Haar trug er länger als alle Mönche, die ihr bislang begegnet waren. Er stand vor der Tafel mit den Steckkarten und betrachtete sie.
»Verzeihung, darf ich kurz stören?«, fragte Alexandra.
Der Mönch drehte sich zu ihr um. Er hatte ein schmales Gesicht mit tief liegenden, dunklen Augen, die ihm eine ein wenig unheimliche Ausstrahlung verliehen. Möglicherweise war er aber auch nur übernächtigt. Als er Alexandra erblickte, verzog er den Mund zu einem Lächeln, dem sie ansehen konnte, dass es von Herzen kam.
»Was kann ich für Sie tun, Frau … Berger, richtig?« Seine Stimme hatte etwas angenehm Sanftes und bildete einen krassen Gegensatz zu seinem düsteren Erscheinungsbild.
»Ja, genau. Ich wollte nachfragen, ob Bruder Johannes wohl etwas Zeit für mich hat. Ich …«
»Stimmt, Sie sind die Journalistin«, unterbrach er sie. »Ich bin übrigens Bruder Jonas.« Er ergriff ihre Hand und drückte sie.
Der Mönch war eigentlich ein wirklich gut aussehender Mann, und er war noch recht jung. Was ihn wohl dazu veranlasst hat, sich für ein Leben im Kloster zu entscheiden?, überlegte Alexandra. Was immer es auch war, er hatte letztlich der Welt da draußen nicht entkommen können. Wie musste er sich jetzt fühlen, da das Kloster zum größten Teil zu einem Hotel umfunktioniert worden war? Seine Pläne, ein rein monastisches Leben zu führen, waren vom Schicksal vereitelt worden, was frustrierend sein musste.
»Bruder Johannes hatte am Telefon davon gesprochen, dass ich mit ihm wegen meines Artikels reden kann.«
»Er ist im Augenblick im Kräutergarten«, erwiderte der junge Mönch und zeigte auf einen Grundriss neben dem Empfang, der ihr zuvor gar nicht aufgefallen war. »Wenn Sie diesen Flur nehmen, bis zu dieser Tür dort, dann gelangen Sie geradewegs in den Kräutergarten.«
Sie prägte sich den Weg ein, dann nickte sie Bruder Jonas zu und verließ das Foyer.
Aus dem Refektorium, das sich auf der anderen Seite an den Empfangsbereich anschloss, war Stimmengewirr zu hören. Vermutlich saßen dort einige Gäste bei einem Kaffee zusammen.
Nachdem Alexandra einem anderen Korridor gefolgt war, von dem aus eine Treppe ins Obergeschoss führte, gelangte sie zu einer Tür mit Butzenscheiben, die in den Kräutergarten führte. Er lag eingebettet zwischen zwei lang gestreckten Gebäudetrakten. Im gegenüberliegenden Trakt befand sich Alexandras Zimmer, während der Teil, den sie soeben durchquert hatte, wohl die Unterkünfte der Mönche beherbergte. Jedenfalls hatten sich an den Zimmertüren dort keine Nummern befunden. Also waren sie zumindest derzeit noch nicht für den Hotelbetrieb vorgesehen.
Alexandra trat in die Wärme des Sommernachmittags hinaus, die sich im Hof zwischen den länglichen Gebäudetrakten staute. Der Kräutergarten präsentierte sich als eine Reihe gepflegter Beete. Unzählige kleine Schilder, die im Boden steckten, gaben eine genaue Auskunft darüber, was wo ausgesät oder gepflanzt worden war. In der Mitte befand sich ein Zierbrunnen, der so gar nicht in diese ansonsten so schlicht gehaltene Umgebung passen wollte.
Rechts von Alexandra wässerte ein Mönch mit einem Gartenschlauch die Beete. Er stand mit dem Rücken zu ihr, doch Alexandra erkannte in ihm Bruder Andreas, der sie bei ihrer Ankunft im Hotel begrüßt hatte.
Er war in seine Arbeit vertieft, und Alexandra wollte ihn nicht stören. Sie schaute nach links – und gab einen frustrierten Laut von sich, denn dort stand ein weiterer Mönch, den sie bislang noch nicht gesehen hatte. Er unterhielt sich angeregt, und das ausgerechnet mit Tobias Rombach. Da Tobias einen Notizblock in der Hand hielt und mitschrieb, musste der Mönch Bruder Johannes sein.
Nein, entschied Alexandra. Sie würde sich nicht dazustellen und sich mit den Resten einer bereits begonnenen Unterhaltung begnügen. Wenn sie Pech hatte, würde Bruder Johannes sie auf ihre Fragen hin an Tobias verweisen, dem er schon einiges erläutert hatte. Und dann würde sie sich mit Informationen aus zweiter Hand zufriedengeben müssen. Womöglich würde Tobias ihr sogar das eine oder andere wesentlich Detail verschweigen, weil er es exklusiv für seinen Artikel verwenden wollte.
Also machte Alexandra kehrt, bevor Pater Johannes oder Tobias sie entdeckte, und ging durch den Flur zurück, bis sie wieder zu der Treppe gelangte, die in den ersten Stock führte. Über das Schild an der Wand hatte man einen Zettel geklebt. Darauf war handschriftlich Säle I-IV vermerkt. Da nichts darauf hinwies, dass die besagten Säle nur dem Personal vorbehalten waren, beschloss Alexandra, sich im Obergeschoss einmal umzusehen.
Am Kopf der Treppe angekommen, fand sie sich vor einer Tür mit der Aufschrift Bibliothek wieder. Neugierig klopfte sie an, und als sich niemand meldete, drückte sie vorsichtig die Türklinke hinunter. Der Raum war in Dunkelheit getaucht. Sie ertastete links an der Wand einen Lichtschalter, und gleich erwachten mehrere Neonröhren flackernd zum Leben. »Wow«, entfuhr es Alexandra beim Anblick der unzähligen kostbaren Bücher, die hier verwahrt wurden. Die Wände waren bis unter die Decke mit Bücherregalen gesäumt. Zwischen den dicken, in Leder gebundenen Folianten klaffte nirgends eine Lücke. Mehrere parallel verlaufende Regalreihen füllten den inneren Teil des Raumes, der den etwas modrigen, aber trotzdem wunderbaren Geruch nach alten Büchern verströmte.
Fast andächtig ging Alexandra tiefer in die Bibliothek hinein und wanderte langsam an einem der Bücherregale entlang. Mit den Fingern strich sie über einen Regalboden und legte den Kopf schräg, um die Titel auf den Buchrücken entziffern zu können. Zu ihrem Bedauern waren sie alle in Latein, womit Alexandra bis auf wenige Begriffe kaum etwas anfangen konnte. Dennoch fand sie diese alten Bücher, die schon ihren Urgroßeltern oder deren Eltern hätten gehören können, einfach faszinierend.
»Nicht schon wieder!«, ertönte auf einmal eine energische Stimme von der Tür her, begleitet von hastigen Schritten in Sandalen, die sich klatschend über den Steinboden näherten.
5. Kapitel
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Herr Wilden, dass die Bibliothek nicht …« Der Mönch, der auf Alexandra zugestürmt war, war etwa so groß wie sie und ein wenig beleibt. Das rötliche Haar trug er glatt nach hinten gekämmt, der krause Bart ließ ihn wie einen zerstreuten Professor wirken.
»Oh, entschuldigen Sie bitte!«, sagte er und errötete leicht. »Ich hatte mit jemand anderem gerechnet …«
»Alexandra Berger«, stellte sie sich vor und gab ihm die Hand. »Vom Magazin Traveltime.«
»Ach, Sie sind die Journalistin, von der Bruder Johannes gesprochen hat! Angenehm, ich bin Bruder Dietmar. Entschuldigen Sie meinen Ausbruch, doch ich hatte einen anderen Gast erwartet …«
Alexandra schmunzelte. »Herrn Wilden, richtig?«
»Ja, genau. Ich habe ihm bereits mehrfach gesagt, dass die Gäste unseres Hotels die Bibliothek nur in Begleitung eines der Mönche betreten dürfen. Aber da er dies einfach nicht akzeptiert, habe ich jetzt den hier mitgebracht, um dem einen Riegel vorzuschieben.« Er hielt einen Schlüssel in die Höhe. »Herr Wilden hat unberechtigt wertvolle Bücher abfotografiert, um sie im Internet probehalber zum Verkauf anzubieten. Angeblich hat er in kürzester Zeit Hunderte von Anfragen erhalten. Doch wir sind nicht am Verkauf unserer Bibliothek interessiert, und das haben wir diesem Mann auch versucht klarzumachen.«