Als ich aus meiner Blitzohnmacht wieder erwacht bin, ist Cherie noch ein Stück näher an mich herangerückt und betrachtet mich neugierig.
»Du warst eben total weggetreten. Geht es dir nicht gut?«
»Äh, doch, blendend.«
»Ich kenn dich. Du warst im letzten Jahr mit deinem Frauchen hier. Sie hatte ein Date, und du hattest Angst, sie könnte Schluss machen. Was sie wohl auch getan hat, wenn ich mir den Typen neben ihr ansehe. Das ist eindeutig ein anderer.«
Stimmt. Im letzten Sommer bin ich Cherie hier schon einmal begegnet. Sie lag unter dem Nachbartisch, als Carolin eine Verabredung mit Jens, dem Schauspieler, hatte. Damals waren wir noch auf Männersuche, und eigentlich erfüllte Jens alle Anforderungen an ein zukünftiges Herrchen. Er ging gerne spazieren, brachte Hundewurst mit und hatte auch Eigenschaften, die bei Menschenfrauen für Begeisterung sorgen: nämlich blaue Augen und ein Auto ohne Dach. Leider hatte er ganz vergessen zu erzählen, dass er bereits eine Freundin hatte. Das kam bei Carolin natürlich nicht so gut an, und so mussten wir Jens dann wieder loswerden.
Wieso ist mir damals nicht aufgefallen, wie sensationell Cherie aussieht und riecht? Dass es sich bei ihr wahrscheinlich um die tollste Hündin der Welt handelt? Also, hübsch fand ich sie damals auch, daran kann ich mich noch erinnern. Aber wiedererkannt habe ich sie jetzt trotzdem nicht. Ob sie irgendwie schöner geworden ist? Oder hat sich irgendetwas bei mir geändert? Kann ich auf einmal besser sehen und riechen? Mysteriös.
Schmeichelhaft ist allerdings, dass sich Cherie noch an mich erinnert hat. Ich bin eben ein Mann, der Eindruck hinterlässt. Klasse! Beste Voraussetzung, um mal ein Rendezvous unter uns Vierbeinern klarzumachen.
»Schön, dass du noch weißt, wer ich bin.«
»Wie könnte ich das vergessen! Du hast an dem Abend so ein Theater gemacht, dass ich zuerst dachte, du hättest eine Blasenschwäche. Mindestens. Wenn nicht etwas Schlimmeres. Ständig bist du unter dem Tisch hervorgeschossen und hast gebellt. Und dann hast du mir erklärt, dass du das nur machst, damit sich dein Frauchen in den richtigen Kerl verliebt. Das war wirklich die verrückteste Geschichte, die ich je gehört habe. Bellen für die Liebe – wie bescheuert ist das denn?«
Sie lacht. Und ich schäme mich in Grund und Boden. Stimmt, so war das damals. Peinlich. Wie soll ich diesen verheerenden Eindruck wieder wettmachen? Denn dass ich ihn wettmachen muss, steht fest. Cherie ist möglicherweise die Frau meines Lebens. Ach was, ganz sicher ist sie das. Ich überlege fieberhaft, was ich nun Schlaues sagen könnte. Leider fällt mir überhaupt nichts ein.
»Nun schau mal nicht so bedröppelt, Kleiner. Ich meine, die Idee war bescheuert, aber auch irgendwie ganz romantisch. Und außerdem warst du doch noch ein halbes Kind. Da kann man schon mal auf solche Gedanken kommen.«
Gut, tröstlich, dass Cherie mich anscheinend nicht für einen Vollidioten hält. Nicht ganz so tröstlich ist, dass sie mich Kleiner nennt. Ich bin zwar neu im Flirt-Geschäft, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die mehrfache Verwendung dieser Anrede ein Zeichen für die abgrundtiefe Bewunderung des so Angesprochenen ist. Großer wäre da vermutlich besser. Mir ist natürlich klar, dass ich gemessen an einem Golden Retriever tatsächlich klein bin, aber es muss doch möglich sein, diese fehlenden Zentimeter irgendwie auszugleichen.
In diesem Moment schießt etwas an unserem Tisch vorbei. Groß, schwarz und schnell. Ehe ich noch sehen kann, um wen oder was es sich dabei handelt, ist es auch schon verschwunden. Und zwar in der Alster. Mit einem riesigen Satz. Sensationell! Ich springe unter unserem Tisch hervor. Das muss ich mir genauer ansehen. Auf die gleiche Idee kommt auch Cherie, gemeinsam laufen wir zu dem kleinen Bootssteg, der dem Gartenlokal vorgelagert ist.
Vorne angekommen, starren wir beide neugierig auf die Stelle, wo das Ding eben verschwunden ist. Die vielen Luftblasen verraten, dass sich unter der Wasseroberfläche mehr befinden muss als ein paar kleine Fische. Und richtig – in diesem Moment taucht Es auf: ein riesiger schwarzer Labrador, der in der Schnauze eine Art großen Ring hält. Ein paar kräftige Schwimmzüge, schon ist er am Steg angelangt, springt aus dem See und schüttelt sich kräftig. Wasser spritzt nach allen Seiten, wir werden richtig nass, aber zumindest Cherie scheint das nicht zu stören.
»Wahnsinn, was für ein toller Typ!«
Ein junger Mann läuft auf den Wahnsinnstypen zu und nimmt ihm den Ring ab.
»Gut gemacht, Alonzo!«
Alonzo. Was für ein beknackter Name.
»Alonzo! Was für ein toller Name!«
Die letzten Worte sind fast nur ein Hauchen. Cherie ist offensichtlich hin und weg. Verdammt. Wenn der Cheries Vorstellung vom Traummann nahe kommt, bin ich weiter als weit davon entfernt, ihr zu gefallen. Alonzos Herrchen holt jetzt noch einmal aus und wirft den Ring wieder in die Alster. Der Labrador springt sofort hinterher. Cherie hält den Atem an. Wenig später taucht Alonzo mit dem Ring in der Schnauze wieder auf. Ich muss zugeben, dass ich auch ein klein bisschen beeindruckt bin. Wie hat er den Ring im See bloß noch gesehen? Das Wasser der Alster ist nicht gerade das, was man glasklar nennen würde.
»Hast du das gesehen, Kleiner? Toll, oder? Wie hat er den Ring so schnell gefunden? Und was für ein guter Schwimmer er ist. Wir Golden Retriever sind ja auch nicht schlecht im Wasser, aber dieser Alonzo ist wirklich unglaublich! So sportlich, super!«
Na ja, also sportlich bin ich auch. Vielleicht könnte ich auch einen Ring aus dem Wasser fischen? Ob Cherie dann beeindruckt wäre? Und ich in ihren Augen gleich ein Stück größer? Alonzo hat in der Zwischenzeit den Ring noch zwei weitere Male apportiert. Und immer, wenn er an Land kommt, wirft er Cherie heiße Blicke zu. Der Angeber! Aber der wird sich noch wundern! Als sein Herrchen das nächste Mal den Ring wirft, zögere ich keine Sekunde.
Das Wasser ist nicht so kalt, wie ich dachte. Allerdings ist es tatsächlich sehr trüb. Ich sehe noch kurz, in welche Richtung der Ring sinkt, dann muss ich mich auf meine Intuition verlassen. Schnell tauche ich tiefer und paddle in die Richtung, in der ich den Ring vermute. Meine Schnauze stößt gegen etwas – das muss er sein! Entschlossen packe ich zu und habe tatsächlich den Ring erwischt. Bravo, Carl-Leopold! Du bist eben doch ein Großer.
Ich tauche wieder auf und will Richtung Steg schwimmen. Aber das geht auf einmal gar nicht mehr so leicht. Irgendetwas scheint mich zurückzuziehen, jeder Schwimmzug fällt mir schwer. Mit Mühe kann ich meinen Kopf noch über Wasser halten, immer wieder drückt es mich unter die Wasseroberfläche. Wahrscheinlich wäre es besser, den Ring einfach wieder loszulassen, aber das will ich auf keinen Fall. Ich kann Opilis Stimme hören: Ein von Eschersbach gibt niemals auf! Verdammt, was ist bloß los? Je mehr ich mich anstrenge, desto schwerer fällt es mir, Richtung Steg zu paddeln. Das Wasser, das eben noch ruhig und glatt war, hat auf einmal regelrechte Strudel bekommen, die mich immer wieder hinunterziehen.
Ich werfe einen Blick nach hinten – und bekomme Panik: Ein riesiges Schiff fährt direkt hinter mir vorbei, und riesige Wellen kommen direkt auf mich zu. Schnell will ich mich wegducken, aber das ist aussichtslos, denn langsam geht mir die Luft aus, und ich werde Richtung Schiff gezogen. Ich paddle noch einmal nach Kräften, dann wird mir schwarz vor Augen, und ich merke, wie ich immer tiefer sinke.
In diesem Moment fährt mir ein stechender Schmerz in den Nacken, irgendetwas packt mich und reißt mich wieder nach oben. Ich will mich umdrehen, bin aber zu schwach. Alles, was ich sehen kann, sind Sternchen vor meinen Augen. Ich lasse den Kopf wieder sinken und bewege mich nicht mehr. Dann werde ich aus dem Wasser gehoben. Einen Moment bleibe ich regungslos liegen, nach einer Weile öffne ich die Augen. Wie auch immer ich wieder hier hingekommen bin: Ich liege auf dem Steg und lebe noch.