Bevor ich mich weiter mit dieser Frage befassen kann, streckt Carolin ihren Kopf durch die Terrassentür und ruft nach mir. Ob sie vielleicht Ninas leuchtendem Beispiel gefolgt ist und auch etwas Leckeres für mich vorbereitet hat? Neugierig trabe ich in Richtung Werkstatt.
»So, Herkules, heute machen wir mal früher Feierabend. Ich habe Marc versprochen, dass wir Luisa von der Schule abholen. Der Hort fällt heute aus, wir werden uns also ein bisschen um die junge Dame kümmern.«
Gut, dagegen ist nichts zu sagen – aber was ist denn mit meinem Mittagessen? Oder bekomme ich nicht nur nicht etwas Selbstgekochtes, sondern insgesamt nix? Carolins Kinderliebe in allen Ehren und auch wenn mir langsam klar wird, dass die menschliche Brutpflege eine ganz delikate Angelegenheit ist: Das geht nun echt zu weit! Luisa wird schon keinen Schaden nehmen, nur weil sie vielleicht ein bisschen vor der Schule warten muss. Ich werde auch häufiger vor dem Supermarkt angebunden und muss mich dann gedulden, bis Carolin mit dem Einkaufen fertig ist. Meines Wissens hat sich noch kein einziger Mensch darüber Gedanken gemacht, wie es mir eigentlich damit geht.
Aber so wie es aussieht, fällt das Essen tatsächlich aus, denn Carolin hat schon ihre Jacke an und wedelt mit dem Autoschlüssel. Ein eindeutiges Signal zum Aufbruch. Normalerweise erledigt Carolin alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Werkstatt, Marcs Haus und die Schule liegen schließlich so dicht beieinander, dass es selbst für Menschen keine unüberwindbare Distanz darstellt. Doch mit Hinkefuß ist die sonst so bewegliche Carolin zum Autofahrer mutiert. Nun gut, dann muss ich eben hungern. Wenn ich deshalb gleich die Autositze fresse, ist Carolin selbst schuld. Ich knurre leise vor mich hin, aber dieses Zeichen meines Protests wird von Carolin komplett ignoriert. Stattdessen scheucht sie mich aus der Werkstatt und schließt die Tür hinter uns. Hier im Treppenhaus riecht es verführerisch lecker nach gekochtem Hühnchen. Wahrscheinlich eigens für Herrn Beck zubereitet. So eine Gemeinheit!
Schlecht gelaunt hüpfe ich auf den Beifahrersitz. Eigentlich mag ich Luisa sehr gerne, aber gerade entdecke ich, dass das Zusammenleben mit einem Kind auch ganz offenkundig Nachteile hat. Man spielt als Hund eindeutig nur noch die zweite Geige. Es ist wahrscheinlich der Hunger, aber ich kann mich nicht daran hindern, in Selbstmitleid zu versinken. Was bin ich nur für ein armer Hund! Es ist noch nicht so lange her, da gab es nur Carolin und mich. Das war herrlich. Sie hatte jede Menge Zeit für mich, wir haben auf dem Sofa gekuschelt, und ab und zu durfte ich in ihrem Bett schlafen. Dann kam Marc dazu. Das war auch noch in Ordnung, immerhin war Carolin seitdem deutlich ausgeglichener und glücklicher. Ab und zu hat uns Luisa besucht, und wir waren eine kleine Familie auf Zeit. Vielleicht war das ideal, und es wäre besser so geblieben. Herr Beck hatte Recht. Damals war alles besser: Luisa spielte und schmuste mit mir, fütterte mich, ich war für sie auch etwas Besonderes, denn zu Hause, bei ihrer Mutter, gab es offensichtlich keine Tiere. Das habe ich gleich gerochen. Jetzt bin ich natürlich nichts Besonderes mehr, und es spielt nicht einmal eine Rolle, dass ich …
»Herkules, mein Süßer! Komm, lass dich mal richtig knuddeln! «
Luisa reißt die Autotür auf und nimmt mich sofort auf den Arm. Sie drückt mich fest an sich, vergräbt ihr kleines Gesicht in meinem Fell und bläst mir ihren warmen Kinderatem ins Genick. Das kitzelt zwar, ist aber trotzdem ein schönes Gefühl. Dann hebt sie mich hoch und guckt mir direkt in die Augen.
»Weißt du, ich freue mich immer, wenn ich dich sehe! Ich glaube, du bist mein bester Freund.«
Ich merke, wie mein Herz einen kleinen Hüpfer macht. Luisa ist einfach ein ganz tolles Mädchen, ich bin wirklich froh, dass es sie gibt. Das mit dem Freund stimmt schon – Kinder und Hunde passen super zusammen. Man ist einfach gleich auf Augenhöhe. Ich schlecke ihr einmal quer übers Gesicht, und sie quietscht vor Freude.
»Komm, Luisa, steig ein! Ich glaube, Herkules hängt der Magen schon auf den Knien, ich hatte eben keine Zeit mehr, ihn zu füttern. Wahrscheinlich frisst er mir gleich die Autositze auf.«
So ein Quatsch! Die Autositze? Absurd. So einen riesigen Hunger habe ich nun auch wieder nicht. Ist doch wohl wichtiger, dass Luisa erst mal heil nach Hause kommt.
SIEBEN
Der Hundegott ist doch ein gütiger: Nach einer sehr reichlichen Portion Pansen sitze ich zufrieden und ein bisschen müde neben Luisa und lasse mich hinter den Öhrchen kraulen. Die unterhält sich gleichzeitig mit Carolin. Gewissermaßen ein Gespräch von Frau zu Frau. Jedenfalls kommt es mir so vor, denn beide haben einen einigermaßen geheimnisvollen Tonfall.
»So, und Pauli ist echt cool?«
»Genau. Eigentlich der einzige coole Junge an der ganzen Schule. Er ist natürlich auch schon in der vierten Klasse. Die Jungs in meiner Klasse sind alle kleine Pupsis, voll doof.«
»Na ja, ein netter Typ ist doch auch schon mal was.«
»Ja, aber im nächsten Schuljahr kommt Pauli aufs Gymnasium – und dann ist er weg, und ich sehe ihn nie wieder.«
»Also, das Gymnasium liegt vermutlich nicht in Australien. Wieso solltest du ihn denn nie wiedersehen?«
»Weil, dann müsste ich mich schon extra mit ihm verabreden. «
»Na und? Kannst du doch machen.«
»Carolin! Pauli verabredet sich nicht mit Mädchen. Dazu ist er viel zu cool.«
»Aha? Das ist ein Zeichen von Coolness? Das wird sich der Pauli bestimmt noch mal anders überlegen.«
»Also selbst wenn er sich mit Mädchen verabreden sollte, dann bestimmt nicht mit kleinen Mädchen. Das ist völlig aussichtslos. Momentan sehe ich ihn noch auf dem Schulhof, und da unterhält er sich sogar mit mir. Aber wenn er erst mal weg ist, ist er weg. Hundertprozentig.«
Schweigen. Carolin legt Luisa einen Arm um die Schulter.
»Und das wäre schon blöd, nicht wahr?«
Luisa nickt, sagt aber nichts.
»Wie ist es denn sonst so an der Schule?«
Luisa zuckt mit den Schultern.
»Du wolltest doch eine Party machen. Hast du denn deine Freundinnen schon eingeladen?«
Luisa nickt wieder, sagt aber immer noch nichts.
»Und wann findet die Party statt?«
Jetzt fängt Luisa endlich an zu sprechen, aber so leise, dass selbst ich mit meinem ausgezeichneten Gehör sie kaum verstehen kann.
»Die findet gar nicht statt. Die wollten alle nicht kommen. Ich bin nämlich nicht im Club.«
Luisa hat aufgehört, mich zu kraulen. Ich blinzele nach oben. Sie wischt sich mit einer Hand über die Augen, und ich kann sehen, dass etwas auf ihrer Wange glitzert. Klarer Falclass="underline" Luisa weint. Das hat auch Carolin bemerkt, die ihr jetzt über den Kopf streicht.
»Mensch, Luisa, warum hast du das denn nicht erzählt?«
»Ich wollte nicht, dass Papi sich Sorgen um mich macht. Er hat sich doch so gefreut, dass ich nach Hamburg gezogen bin.«
Ich bin entsetzt – Luisa geht es schlecht, und ich habe davon rein gar nichts bemerkt. Ein Unding – ein Dackel, der keine Antennen für sein Rudel hat! Offenbar kreise ich in letzter Zeit zu sehr um mich selbst. Ob das an Cherie liegt? Sofort schweifen meine Gedanken ab. Wie finde ich bloß heraus, wann sie in Marcs Praxis kommen wird? Ich bin tagsüber immer mit Carolin in der Werkstatt, da würde ich sie glatt verpassen. Oder ich bleibe in Zukunft einfach zu Hause und verbringe meine Zeit in der Praxis. Gut, das ist natürlich für den Fall, dass Cheries Frauchen erst in ein paar Wochen einen Termin macht, eine ziemlich langweilige Variante. In Marcs Haus habe ich nämlich keine Freunde. Luisa ist tagsüber in der Schule, und die einzigen anderen Tiere sind Marcs Patienten, die aber ständig wechseln. Also niemand, mit dem ich mich anfreunden könnte. Ein echtes Problem, aber hoffentlich kein unlösbares.