»Das ist schön, wenn man einen besten Freund hat. Oder eine beste Freundin.«
Auch Nina setzt sich auf den Boden.
»Stimmt. Ich bin auch froh, dass ich Carolin habe. Wer ist denn deine beste Freundin?«
Luisa zuckt mit den Schultern. »Niemand. Johanna war meine beste Freundin in München, aber hier in Hamburg habe ich noch keine.«
»Verstehe. Das ist natürlich doof.«
»Weißt du, ich habe schon versucht, ein paar Mädchen aus meiner Klasse einzuladen, aber die wollten leider nicht kommen. Ich habe es neulich schon Carolin erzählt – und die hat sich jetzt etwas überlegt, wie ich vielleicht doch noch Freundinnen finde. Ist aber noch geheim, sie will mich überraschen.«
»Das klingt doch gut. Bestimmt hat Caro eine richtig tolle Idee, du wirst schon sehen.«
Herr Beck robbt an mich heran. »Muss man sich Sorgen um Luisa machen? Das arme Kind!«
»Sag mal, seit wann bist du denn so ein Kinderfreund? Neulich hast du wegen der Gören von Wiese junior noch Gift und Galle gespuckt.«
»Was heißt hier Gift und Galle? Ich war lediglich ein wenig ungehalten, vielleicht hatte ich auch einen schlechten Tag wegen der ganzen Geschichte mit Frau Wiese.«
Hört, hört. Herr Beck räumt einen schlechten Tag ein. Eine interessante persönliche Entwicklung. Allerdings nicht so interessant wie das Gespräch zwischen Luisa und Nina. Letztere kann es sich nämlich nicht verkneifen, sich mal genauer nach dieser Sabine zu erkundigen.
»Und deine Mama? Wie findet die, dass du jetzt bei deinem Papa wohnst?«
Wenn Marc das wüsste, wäre es ihm bestimmt nicht recht. Ich kann gar nicht genau sagen, warum ich das glaube – aber ich habe das Gefühl, dass Nina die Familiengeschichte eigentlich nichts angeht.
»Mama findet das gut. Wir haben uns das zusammen überlegt.«
»Wer ist denn wir?«
Mann, diese Nina ist aber richtig neugierig. Warum will sie das bloß so genau wissen?
»Na, Mama, Papa und ich. Und auch Jesko. Das ist Mamas Freund. Der wohnt mit ihr zusammen.«
»Aha. Dann ist ja alles gut.«
Eben. Und so hat es ihr doch auch schon Carolin erzählt. Aber der wollte Nina das wohl nicht glauben. Wobei – so ganz gut scheint es nicht zu sein, sonst hätte Marc keinen Streit mit Sabine gehabt. Glaube ich jedenfalls. Und ich könnte einen großen Kauknochen darauf verwetten, dass Nina auf die gleiche Idee gekommen ist.
Luisa ist längst im Bett, und Herr Beck und ich lümmeln mit Nina vor dem Fernseher auf dem Sofa herum. Eine gute Gelegenheit, Herrn Beck endlich mal von dem Thema zu erzählen, das mich am meisten bewegt: Cherie. Ich habe ihm gegenüber zwar schon die ein oder andere Andeutung gemacht, aber bisher hat er darauf überhaupt nicht reagiert. Was ich schon ein bisschen ungerecht finde. Schließlich habe ich mir auch das ganze Elend über Frau Wiese, Wiese junior, die kleinen Monster und die Sorgen über die Suche nach einer neuen Bleibe von ihm angehört. Da wird er doch mal fünf Minuten Zeit übrig haben, sich anzuhören, wie es um mein kleines Dackelherz bestellt ist.
»Weißt du, was ich dir schon die ganze Zeit erzählen wollte?«
Herr Beck rollt sich herum und dreht den Kopf in meine Richtung. »Nee, was denn?«
»Ich habe jemanden kennengelernt.«
»Ach.« Besonders interessiert klingt Beck nicht, aber das ist mir egal.
»Ja, eine Golden-Retriever-Hündin. Sie heißt Cherie und ist schön. Wunderschön.«
Herr Beck rückt näher an mich heran. »Sag bloß, du hast dich verliebt?«
»Na ja, also, ich weiß nicht so genau. Aber ein bisschen Herzklopfen kriege ich schon, wenn ich sie sehe. Genau genommen ziemlich viel Herzklopfen.«
Wenn er es könnte, würde Herr Beck in wieherndes Gelächter ausbrechen, das sehe ich ihm genau an. So allerdings muss er sich auf etwas beschränken, das wie ein heiseres Fauchen klingt.
»Cherie? Golden Retriever? Oh, Mann, Herkules, die ist doch mindestens doppelt so groß wie du! Wenn nicht dreimal! «
Er rollt sich vor Vergnügen auf dem Boden herum. Irgendwie hatte ich mir von einem guten Freund eine andere Reaktion erhofft.
»Also, ich weiß wirklich nicht, was daran so komisch ist. Sicher, ich bin kleiner, aber eigentlich bin ich doch auch ein Jagdhund und da …«
Es klingelt an der Wohnungstür. Nanu? Ganz schön spät für Besuch. Wahrscheinlich haben Carolin und Marc nur den Schlüssel vergessen. Nina läuft in den Flur, um zu öffnen, ich folge ihr.
Aber vor der Tür stehen nicht Marc und Carolin. Sondern eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen habe.
NEUN
Ich habe sie wirklich noch nie gesehen. Da bin ich mir ganz sicher. Und trotzdem riecht sie irgendwie vertraut. Seltsam. Wie kann das sein? Nina scheint es interessanterweise ähnlich zu gehen. Kommt ihr die Frau auch bekannt vor? Sie schaut hin, schaut kurz wieder weg, überlegt, schaut nochmal hin. Dann öffnet sie die Tür ein Stück weiter.
»Ja, bitte?«
Die fremde Frau macht einen Schritt nach vorne. Der vertraute Geruch weht mir nun direkt in die Nase. Es riecht ein bisschen nach … hm … nach … Luisa!
»Hallo. Ich bin Sabine. Sie müssen Carolin sein. Darf ich reinkommen?«
»Marc ist nicht da«, beeilt sich Nina zu sagen.
»Schade.« Die Frau denkt kurz nach. »Wobei – vielleicht ist es auch gar nicht schlecht, wenn wir beide uns mal unterhalten.«
Hey, Nina, vergiss es! Du bist doch gar nicht Carolin. Und das ist auch gar nicht deine Wohnung – willst du diese Fremde wirklich reinlassen? Ich merke, wie sich jede Muskelfaser in meinem Körper anspannt. Lass! Sie! Nicht! Rein!, würde ich am liebsten laut rufen. Stattdessen muss ich mich aufs Knurren beschränken. Dackel sind zwar eigentlich Jagdhunde, aber vielleicht sorgt der Terrieranteil in mir auch für gewisse Wachhundqualitäten.
Die fehlen Nina leider völlig. Sie zögert nur kurz, dann öffnet sie die Tür ganz. Die Frau betritt unseren Flur und schaut sich fragend um. Ich bleibe bei der Tür stehen und mustere sie aus den Augenwinkeln. Sie ist groß und schlank und hat dunkle, gelockte Haare, genau wie Luisa. Warum sagt Nina dieser Sabine nicht einfach, dass sie heute Abend nur der Babysitter ist, und schmeißt sie dann raus?
»Kommen Sie doch bitte mit ins Wohnzimmer. Hier entlang.«
»Ich weiß. Meine Schwiegereltern haben hier früher gelebt. « Der letzte Satz kommt schnell und scharf. Sehr scharf. Meine Nackenhaare beginnen, sich zu sträuben. Diese Frau ist gefährlich, das ist eindeutig. Hoffentlich ist sie nicht bewaffnet, immerhin hat sie eine sehr große Handtasche dabei. Ich halte mich jetzt dicht an Nina, bereit, sie sofort zu verteidigen.
Noch allerdings geht die Frau nicht in eine Angriffshaltung über. Sie mustert Nina.
»Komisch. Ich hatte Sie mir ganz anders vorgestellt.«
Kein Wunder. Das ist ja auch gar nicht Carolin. Nina, was ist los mit dir? Klär das auf, und zwar bevor sie dich anfällt und niederschlägt. Riechst du die Gefahr etwa nicht?
Natürlich nicht. Stattdessen geht sie ins Wohnzimmer vor und bietet der Frau mit einer Handbewegung einen Platz auf dem Sofa an. Wozu haben Menschen eigentlich eine Nase im Gesicht? Die ist komplett überflüssig. Ich habe mir das schon öfter gedacht. Meistens stört es mich nicht – jeder hat eben seine Schwächen. Aber gerade im Moment regt es mich schon auf, dass Nina diesen stechend aggressiven Duft, der die Frau umweht, so gar nicht wahrnimmt.
Wer allerdings auch nichts wahrnimmt, ist Herr Beck. Der liegt nach wie vor auf dem Sofa. Ist anscheinend eingeschlafen. Himmel, bin ich hier denn der Einzige, der den Ernst der Lage erkannt hat? Nur zwei Türen weiter schläft Luisa friedlich in ihrem Bett. Was, wenn die Fremde, die behauptet, Sabine zu sein, unser Kind rauben will?