Carolin nickt heftig.
»Auf alle Fälle!«
»Ich will ja nicht zu negativ klingen – aber nach meiner Erfahrung gibt’s so etwas gar nicht. Also, außer bei den Gebrüdern Grimm.«
Moment – das kommt mir aber sehr bekannt vor! Es ist doch fast das gleiche Gespräch, was Beck und ich beim Umzug geführt haben. Ich habe es schon manches Mal gedacht – mit ihrer negativen Art sind Herr Beck und Nina tatsächlich so etwas wie Seelenverwandte. Schlimm, so was. Nur gut, dass Carolin so ein sonniges Gemüt hat und sich davon nicht beeindrucken lässt.
»Dann nenn mich von mir aus Schneewittchen, und Herkules den siebten Zwerg. Auf alle Fälle ist Marc mein Prinz.«
»O nein, meine Liebe. Du bist die böse Stiefmutter, und Luisa fühlt sich bestimmt bald wie Aschenputtel. Du wirst es schon noch merken. Patchwork ist mit Sicherheit schwieriger, als du jetzt glaubst. Es gibt ja Untersuchungen, dass gerade die Rolle der neuen Frau an der Seite eines Vaters sehr problematisch …«
Mit einer schnellen Handbewegung unterbricht Carolin Nina.
»Mann, jetzt hör endlich auf mit der Schwarzseherei. Manchmal glaube ich echt, du bist noch eifersüchtig, weil du Marc am Anfang auch ganz niedlich fandest.«
Nina schnappt nach Luft.
»Bitte?! Das ist jetzt nicht dein Ernst! Also wenn du das wirklich denkst, dann …«
Bevor Nina noch ausführen kann, was genau dann passiert, klingelt es. Ich bin ganz froh über diese Unterbrechung, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass die beiden Damen hier gerade auf einen handfesten Streit zugesteuert sind.
Nina steht vom Tisch auf und geht zur Tür, ich lasse meinen trockenen Hundekuchen zurück und trabe hinterher. Vor der Tür steht ein junger Mann.
»Guten Tag, Frau Bogner?«
»Ja, die bin ich. Was gibt’s?«
»Martin Wiese mein Name. Ich bin der Neffe von Frau Wiese, Sie wissen schon, die ältere Dame, die direkt über Ihnen wohnt.«
Genau, Frau Wiese, Herrn Becks Frauchen. Klar kenne ich die. Herr Beck wohnt schon ziemlich lange mit ihr zusammen und hat sich eigentlich noch nie über sie beschwert. Und das, obwohl er ja ein durchaus kritischer Zeitgenosse ist. Nina allerdings hat Frau Wiese natürlich noch nie zu Gesicht bekommen.
»Tut mir leid, ich kenne Ihre Tante nicht, ich bin erst letzte Woche hier eingezogen.«
Jetzt kommt auch Carolin dazu.
»Aber ich kenne Ihre Tante. Hallo, ich bin Carolin Neumann, ich habe vorher in dieser Wohnung gewohnt. Was ist denn mit Ihrer Tante?«
Martin Wiese seufzt.
»Tja, meine Tante hatte am Wochenende einen Schlaganfall. «
Was auch immer das ist – mich beschleicht das Gefühl, dass meine dunkle Vorahnung sich bewahrheiten könnte: Herr Beck steckt in Schwierigkeiten.
Carolin holt Luft. »Wie furchtbar! Das tut mir leid!«
»Gott sei Dank war sie nicht allein, als das passiert ist, meine Frau war gerade mit den Kindern zu Besuch. Meine Tante ist auch gleich ins Krankenhaus gekommen, es geht ihr inzwischen etwas besser. Allerdings wird sie auf absehbare Zeit nicht in die Wohnung zurückkommen. Deswegen wollte ich fragen, ob vielleicht einer der Nachbarn ab und zu nach der Post und den Pflanzen schauen könnte.«
Nach der Post und den Pflanzen? Aber was ist denn mit Herrn Beck passiert? Der ist doch wohl viel wichtiger als ein bisschen Papier und das Grünzeug. Ich beginne, unruhig hin und her zu laufen. Leider ignorieren mich die Zweibeiner komplett.
»Na ja, ich habe nach wie vor meine Werkstatt im Haus. Ich könnte natürlich schon alle drei, vier Tage nach dem Rechten sehen.«
Das war ja klar, dass sich meine grundgute Carolin hier gleich wieder opfert, während Nina wahrscheinlich im Leben nicht auf die Idee käme, helfend einzuspringen. Erstaunlich, wie unterschiedlich die Menschen sind. Eine grundsätzliche Charakterfestigkeit, wie sie Dackeln oder Terriern zu eigen ist, geht ihnen leider völlig ab. Es ist offenbar Zufall, ob ein Mensch edel und hilfreich oder mies und gemein ist. Wobei ich damit natürlich nicht gesagt haben will, dass Nina mies und gemein ist, nur edel und hilfreich ist sie eben nicht, obwohl sie durchaus …
»Sagen Sie, Herr Wiese, Ihre Tante hat doch eine Katze, oder?«
Hoppla, Nina erinnert sich an Herrn Beck. Das hätte ich nicht gedacht. Es untermauert meine These von der Seelenverwandtschaft allerdings ungemein.
»Äh, ja, das stimmt. Sie hat tatsächlich einen Kater. Blecki oder so. Der ist momentan bei uns zu Hause. Ist aber auch keine Dauerlösung, meine Frau hat eine leichte Tierhaarallergie. «
»Was halten Sie denn davon, wenn ich mich um Blecki kümmere, solange, bis es Ihrer Tante wieder besser geht? Dann muss sich das Tier nicht groß umgewöhnen.«
»Oh, das ist ja ein nettes Angebot! Wir haben tatsächlich schon überlegt, was wir mit ihm machen. Meine Tante hängt sehr an ihm, das Tierheim wäre also keine Alternative.«
Ach du Schreck – das Tierheim! Nein, das würde ich Beck nicht einmal in seinem missmutigsten Zustand wünschen. Meine eigenen Erfahrungen dort waren mehr als gruselig. Nur gut, dass Nina auf einmal ihre Tierliebe entdeckt hat. Auch wenn das eine völlig überraschende Entwicklung ist. Offenbar muss ich meine Meinung über Nina noch einmal überdenken. Der Punkt mit der fehlenden Charakterfestigkeit war vielleicht ein bisschen voreilig. Aber konnte ich das ahnen? Selbst Carolin scheint erstaunt.
»Du willst dich wirklich um die Katze kümmern?«
»Klar, warum nicht? Du die Post, ich das Viech. Passt doch.«
Herr Wiese lächelt.
»Danke, das ist sehr nett. Da haben wir auf einen Schlag ein paar Sorgen weniger.«
»Keine Ursache. Eigentlich habe ich schon immer mit einer Katze geliebäugelt. Jetzt kann ich das mal ein bisschen üben.«
»Sehr gut! Dann bringe ich Ihnen die Katze morgen vorbei. «
Nina nickt.
»Ja, machen Sie mal. Falls ich nicht da bin, klingeln Sie doch einfach in der Werkstatt bei Frau Neumann.«
Nina, die verkappte Tierfreundin. Fragt sich nur, wie ich ihr klarmache, dass Herr Beck nicht Blecki heißt.
»Sag mal, meinst du, Luisa hat wirklich nichts dagegen, dass wir zusammengezogen sind?«
Carolin und Marc sitzen auf dem Sofa, in der Hand jeweils ein Glas von dem fürchterlichen Zeug, das sich Rotwein nennt. Luisa ist längst ins Bett gegangen, ich bin eigentlich auch schon ziemlich müde. Aber natürlich ist meinem feinen Näschen nicht entgangen, dass sich hier ein menschliches Beziehungsgespräch anbahnt. Und weil ein kleiner Hund wie ich dabei in aller Regel viel über Zweibeiner lernen kann, verziehe ich mich nicht ins Körbchen, sondern bleibe hübsch neben dem Sofa liegen. Beziehungen zwischen Hunden sind ja meist recht simpel gestrickt: Ober sticht Unter, und Rüde liebt Weibchen. Wobei mir bei Letzterem noch die praktische Erfahrung fehlt, aber wenn ich den älteren Hunden im Park bei ihren wilden Geschichten zuhöre, dann muss es wohl so sein. Also einfach und überschaubar.
Nicht so natürlich beim Menschen. Das fiel mir schon auf, als ich noch nach dem passenden Mann für Carolin Ausschau hielt. Ihr Exfreund Thomas war wirklich der letzte Heuler, aber kaum waren wir ihn los, wurde es erst richtig kompliziert. Denn das Beuteschema von Menschenfrauen ist voller Rätsel. Merke: Männer sollen nett sein, aber keinesfalls zu nett. Als Herr Beck mir das zum ersten Mal erklärte, war ich mir sicher, er wolle mich auf den Arm nehmen. Aber am Ende haben wir ja Gott sei Dank Marc dingfest gemacht.
Umso wichtiger, mal hinzuhören, was die beiden nun zu besprechen haben. Nur für den Fall, dass die Beck’sche Theorie, wonach es beim Menschen immer kompliziert bleibt, stimmen könnte.
»Aber warum sollte Luisa denn auf einmal etwas dagegen haben, dass du hier eingezogen bist? Im Gegenteil, wir haben doch vorher alles miteinander besprochen, und sie hat sich gefreut.«