»Wenn Sie gestatten, Madam!«
Während Vi und ich die Gelegenheit nutzten, auf zwei großen und eher unbequemen Stühlen Platz zu nehmen, bemerkte ich, daß die zwei Männer, die zuvor miteinander gesprochen hatten, es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatten.
»Ich werde von neuem beginnen. «
»Inspektor Thackeray!« Lady Margarets Stimme durchschnitt den Raum. »Wenn Sie das Gefühl haben, Ihnen könnte etwas auf den Kopf fallen, dann behalten Sie Ihren Hut um Himmels willen auf, ansonsten.«
Der arme Inspektor, der so in Verlegenheit geriet wie ein Junge beim Damentee, nahm die anstößige Melone vom Kopf und legte sie auf den Tisch.
Nicht schlecht, Lady Margaret, dachte ich.
»Sie müssen mir verzeihen, Mylady«, stammelte er. »Die meiste Zeit merke ich nicht einmal, daß ich ihn aufhabe. Meine Frau«, fuhr er in dem offensichtlichen Bestreben, seine Verlegenheit zu verbergen, fort, »sagt sogar, ich würde damit ins Bett gehen, wenn sie nicht.«
Unruhiges Füßescharren war zu hören. Sir Charles hustete.
In dem Versuch, seine Fassung wiederzuerlangen, holte der Inspektor hastig einen kleinen Notizblock und einen Stift aus der Innentasche seines Mantels hervor.
»Nun, ja, ich fang’ noch mal von vorne an, nicht wahr?«
Er schwieg für einen kurzen Augenblick, während er sich fragend im Zimmer umschaute. Zufrieden darüber, daß er nun wohl ohne weitere Unterbrechungen fortfahren konnte, kam er sofort zur Sache. »Die Leiche einer jungen Frau«, verkündete er, »deren Identität bisher unbekannt ist, wurde heute in den frühen Morgenstunden auf dem Grundstück des Gutes von.« - er warf einen kurzen Blick auf seine Notizen - »einem gewissen Will Tadlock aufgefunden, welcher auf Haddley als Stallbursche angestellt ist. Todesursache war ein starker Schlag von hinten mit einem schweren, stumpfen Gegenstand. Eine vorläufige Untersuchung des Leichnams durch Dr. Morley«, fuhr er fort, »legt den Mord in etwa auf den Zeitraum zwischen elf Uhr gestern abend und ein Uhr heute morgen fest.«
»Ermordet! Eine junge Frau!« Ich schlug die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu ersticken. Da ich das Gefühl hatte, kurz vor einer Ohnmacht zu stehen, lehnte ich mich gegen Vi und griff haltsuchend nach ihrem Arm. Sie saß fest verwurzelt in ihrem Stuhl, wobei ihre anfängliche Reaktion in Form eines Staunens mit offenem Mund letztendlich einem verzweifelten Ausruf wich.
»Doch nicht Mary!«
Thackeray drehte sich ruckartig zu ihr um. »Mary? Mary wer?«
»Mary O’Connell, Inspektor, ein Stubenmädchen«, sagte der Mann am Fenster, bei dem es sich, wie ich an seinen Gesichtszügen erkennen konnte - vorstehende Nase und das gleiche weiche Kinn - wohl um den Squire St. Clair, den jüngeren Bruder von Sir Charles, handelte.
»Nein, Mrs. Warner, es war nicht Mary«, versicherte er ihr. »Heute morgen fand eine Besichtigung der Leiche statt, und ich kann Ihnen versichern, daß es nicht das Mädchen O’Connell war.«
»Nun, Gott sei Dank«, lautete die erleichterte Antwort meiner Kameradin. »Aber«, befragte sie den Inspektor, »wer ist es dann?«
Die Antwort kam recht verärgert. »Das, Mrs. Warner, versuche ich gerade herauszufinden!«
»Inspektor Thackeray«, meldete ich mich zu Wort, »wollen Sie uns erzählen, daß hier auf dem Gut eine Frau brutal ermordet worden ist, und keiner weiß, wer dieses arme Geschöpf eigentlich ist? Sie haben alle befragt, nehme ich an?«
»Ja, Mrs. Hudson«, lautete die wortkarge Antwort. »Alle - außer Sie und Mrs. Warner.«
Glücklicherweise kam Hogarth gerade in diesem Moment herein und verzögerte für einen Augenblick weitere Äußerungen des guten Inspektors.
»Tee, wie gewünscht, Mylady.«
»Danke, Hogarth. Dort drüben wäre recht«, sagte Lady Margaret und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen Tisch im Queen-Anne-Stil, der vor einem Erkerfenster mit offen drapierten Vorhängen stand.
Während der alte Herr durch das Zimmer schritt, strömte das Sonnenlicht eines frühen Oktobermorgens durch das Fenster, wobei die Strahlen sich in dem runden Silbertablett und dem Teegeschirr spiegelten, welches um ein Sortiment von Feingebäck aufgebaut war.
»Ah, Margaret, unsere Rettung!« lautete Sir Charles’ seltsame Antwort auf das Dargebotene.
»Ich weiß, du hättest etwas Stärkeres vorgezogen, Charles, selbst zu dieser frühen Morgenstunde. Aber versuche bitte, tapfer durchzuhalten, zumindest bis zum Mittag.«
»Ha, du machst unseren Thackeray ja glauben, mein Liebling, ich sei der Säufer in der Familie. Nein wirklich, Sir, ich versichere Ihnen, das ist nicht der Fall. Aber dennoch verstehe ich nicht, was daran falsch sein soll, wenn einem ein oder zwei Whisky dabei helfen, der schrecklichen Realität zu entfliehen. Sehr viel erfreulicher als ein Kartenabend - außerdem auch billiger. Bist du nicht auch meiner Meinung, Henry?«
Der Squire tat die Bemerkung mit einem hohlen Lachen ab.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Butler zu, der sich lautlos zurückzog. Als er die Tür erreichte, hielt er kurz inne, bevor er sich umdrehte und mich anschaute. Obwohl kein einziges Wort gesagt wurde, sprachen jene traurigen und müden Augen Bände.
Hogarth, dachte ich, nachdem ich Vi und mir Tee eingeschenkt hatte und wieder an meinen Platz zurückgekehrt war, Sie und ich werden zu einem angemesseneren Zeitpunkt noch einen netten kleinen Plausch abhalten. Einige Augenblicke später bemerkte ich, daß einer der drei sitzenden Herren seinen Sessel verlassen hatte und auf mich zukam.
»Wyndgate, Madam. Colonel Wyndgate. Königliches Regiment North Surrey, im Ruhestand«, stellte er sich vor.
Ein wohlbeleibter Herr mit einem herrlichen weißen Schnauzbart, der zu beiden Seiten seines Kinns herabhing, stand vor mir. Krümel des Gebäcks, welches er in einer fleischigen Hand hielt, fielen auf eine Weste, deren Knöpfe in ein verzweifeltes Tauziehen mit einem überdimensionalen Bauch verwickelt zu sein schienen.
»Colonel«, erwiderte ich grüßend auf seine eher spröde Art des Bekanntmachens.
»Hudson, nicht wahr?«
»Mrs. Hudson, ja.«
»Hudson«, wiederholte er mit einem leeren Blick. »Hatte mal jemanden namens Hudson in meinem Regiment. Hab’ den Kerl nie gemocht. Nicht Ihr Mann, nehme ich an.«
»Mein Gatte«, erwiderte ich kühl, »diente auf See.«
»Auf See, sagen Sie! Marinemann also?«
»Auf einem Handelsschiff«, sagte ich scharf, denn ich begann, mich zu ärgern.
»Ach, diese Kerle. Nun, machen Sie sich nichts draus, wir tun alle nur, was wir können.«
»Wenn Sie mich entschuldigen, Colonel«, sagte ich. »Ich glaube, ich brauche noch eine Tasse Tee.« Die brauchte ich eigentlich nicht, aber es war eine Möglichkeit, um mich seiner Gegenwart zu entziehen.
»Scheußliche Angelegenheit, was?«
Hörte er schlecht oder ignorierte er einfach meinen Versuch, mich taktvoll zurückzuziehen? Ich wandte ihm meine Aufmerksamkeit wieder zu. Auch wenn ich bezweifelte, daß mir dieser aufgeblasene Wichtigtuer etwas erzählen konnte, so war es doch eine Gelegenheit, die ich nicht ungenutzt lassen durfte.
»Die junge Frau, meinen Sie?«
»Ja, genau.«
»Sie selbst wissen nichts über sie?«
Er leckte seine Finger ab, auf die etwas Marmelade von dem Gebäck geraten war, bevor er antwortete. »Ich! Gott im Himmel, nein, Madam! Hab’ das Geschöpf noch nie in meinem Leben gesehen. Ist allerdings ein recht hübsches junges Ding.«
»Sie haben den Leichnam also gesehen?«
»In der Tat, Madam. Wir sind heute morgen nämlich alle wie Soldaten auf einer Parade hinausmarschiert. Alle außer Lady Margaret, natürlich. Es bestand keine Notwendigkeit, daß Ihre Ladyschaft sich so etwas anschauen muß. Ziemt sich nicht, Sie verstehen.«
»Oh, ja«, erwiderte ich mit einem subtilen Sarkasmus, der Violet mit Stolz erfüllt hätte, »die Regeln gesellschaftlicher Etikette haben selbstverständlich sogar Vorrang vor offiziellen Ermittlungen in einem Mordfall.«