»Ja, genauso ist es«, antwortete er und biß in die Überreste seines Blätterteiggebäcks.
Der Inspektor fürchtete offenbar, daß sich seine Befragung zu einem Teekränzchen entwickeln würde, und versuchte, die Kontrolle über die Situation wiederzugewinnen.
»Bitte, meine Damen und Herren«, sagte er mit erhobener Stimme. »Ich weiß, Ihnen steht heute noch das Begräbnis Ihrer Ladyschaft bevor, wenn Sie mir also noch ein wenig Aufmerksamkeit schenken würden, werde ich Sie nicht länger als nötig aufhalten.«
Während das Durcheinander der Stimmen leiser wurde, nahm Violet die Gelegenheit wahr, unsere leeren Tassen auf den Teewagen zurückzustellen, und kehrte zu ihrem Platz zurück.
»Nun, Mrs. Warner«, wandte sich der Inspektor an Violet, »ich denke, das von Ihnen bewohnte Zimmer geht zum hinteren Teil der Gartenanlagen des Gutes hinaus, wo die Leiche gefunden wurde.«
»Ja, das ist richtig«, antwortete Vi. »Wenn sie dort gefunden wurde.«
»In der Tat, Madam. Neben dem Pfad, der zu dem Pavillon führt, um genau zu sein. Und da Sie zuvor erwähnten, daß sowohl Sie als auch Mrs. Hudson letzte Nacht noch lange wach waren, können Sie mir vielleicht sagen, ob einer von ihnen zufällig etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hat?«
»Wie hätten wir etwas sehen können? Wir waren im Bett und haben nicht am verflixten Fenster gestanden!«
»Also auch nichts gehört?« Seine Augen rasten zwischen uns hin und her.
»Gehört? Ich nicht. Wobei mein Gehör natürlich nicht mehr so gut wie einst ist. Und du, Em?«
»Etwas gehört?« wiederholte ich fragend. In dem Moment schoß mir die Erinnerung an die vergangene Nacht, an erstickte Stimmen und schmerzvolle Schreie durch den Kopf. Doch die Schreie waren von einem Zimmer innerhalb des Hauses gekommen, dessen war ich mir sicher. Oder nicht? Vielleicht war auch nur eine übermäßige Phantasie im Spiel. Sollte ich es sagen? Und wenn ja, was dann? Ich würde wie eine verrückte alte Frau dastehen. Ich brauchte Zeit, um in Ruhe darüber nachzudenken.
»Nein, nichts«, antwortete ich.
»Ich verstehe.« Der Inspektor tat einen müden Seufzer und steckte dabei seinen Block und den Bleistift wieder in die Tasche. Dann wandte er sich an alle Anwesenden und fragte: »Darf ich davon ausgehen, daß niemand auch nur das geringste über die Verstorbene weiß?«
»Es scheint, Inspektor«, stellte Sir Charles fest, »als sei uns allen die junge Frau vollkommen unbekannt.«
»Zigeunerin, wenn man mich fragt. Hab’ erst letzte Woche einen ihrer Wagen gesehen. Hat sich wahrscheinlich mit ihrer Sippe verkracht, und die haben sie dann fallengelassen. Widerliche Bettler sind das alles«, lautete der Beitrag zum Thema seitens des Colonels.
»Wir werden das natürlich ebenfalls überprüfen«, antwortete Thackeray trocken.
»Guter Mann, guter Mann«, schnaubte der alte Soldat.
»Also vielen Dank, meine Damen und Herren, Sie waren äußerst hilfsbereit«, sagte der Inspektor mit einer geringen oder gar nicht vorhandenen Überzeugung in der Stimme. »Obwohl ich sie vielleicht darauf hinweisen sollte, daß es zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein könnte, daß eine weitergehende Befragung notwendig wird. Ich gehe nicht davon aus«, fügte er nachträglich hinzu, »daß jemand vorhat, weitere Reisen zu unternehmen.«
Violet meldete sich zu Wort. »Em, Mrs. Hudson, meine ich, und ich selbst hatten vor, das Gut bis zum Ende der Woche zu verlassen. Obwohl wir jetzt natürlich«, fügte sie mit einem Seitenblick auf die Frau des Baronets hinzu, »vielleicht noch ein wenig länger bleiben sollten. Ich bin sicher, daß es Ihrer Ladyschaft nichts ausmacht. Nicht wahr, Lady Margaret?«
Ein Krokodilslächeln wäre die beste Beschreibung des durchtriebenen Grinsens, welches Violets Frage begleitete.
Die Frau in schwarzem Brokat ignorierte Violet und richtete ihre Antwort an Thackeray. »Ist das wirklich nötig, Inspektor?«
»Wenn sie zumindest noch eine Weile blieben, wäre das tatsächlich günstiger«, antwortete er und fügte hinzu, »denn es handelt sich immerhin um Ermittlungen in einem Mordfall, Mylady.«
Lady Margaret preßte ihre Lippen kaum merklich aufeinander, bevor sich ihr königliches Haupt zu einem zustimmenden Nicken bewegen ließ.
Violet wandte sich mir mit der Spur eines Lächelns in ihren Mundwinkeln zu. Es war für uns eine Art Triumph, egal wie klein er auch schien. Denn hätte man uns die zusätzliche Zeit auf Haddley verwehrt, wären unsere eigenen Ermittlungen praktisch unmöglich gewesen.
»Nun gut«, sagte der Inspektor. Dann bemerkte er eine winkende Geste des Squires und zog sich schnell zurück.
Als er ging, richtete sich meine Aufmerksamkeit auf einen gut gebauten Mann mit einer gesunden Gesichtsfarbe und graumeliertem Haar, welches, wie ich feststellte, einen Schnitt bitter nötig hatte. Er nippte schweigend an seinem Tee, trug einen leicht abgetragenen und zerknitterten Anzug und schien ein Mann zu sein, der nur zufällig in diese elegante Enklave geraten war. Ich konnte erkennen, daß sein Gesicht eine gewisse Sensibilität barg. Kein willensstarker oder energischer Mann, dachte ich, aber dennoch ein angenehmer. Als fühle er, Gegenstand einer schweigenden Begutachtung zu sein, drehte er sich um, begegnete meinem Blick, nickte höflich und kam dann zu mir herüber.
»Ich glaube, wir sind uns noch nicht offiziell vorgestellt worden«, sprach er mich freundlich an, und seine warmen, blauen Augen lächelten. »Ich bin Dr. Morley, Dr. Thomas Morley.«
»Oh«, kam Vi zu Hilfe, »verzeihen Sie, Doktor. Dies«, antwortete sie mit einem warmen Lächeln und tätschelte meinen Arm, »ist meine alte Freundin aus London, Mrs. Hudson.«
»Guten Morgen, Doktor«, lautete meine herzliche Antwort. »Ich fürchte, wir lernen uns unter unglücklichen Umständen kennen.«
»In der Tat, Mrs. Hudson. Besonders mit dem Begräbnis und all dem. Sie werden doch gehen, nehme ich an - zu dem Begräbnis, meine ich.«
»Nein«, antwortete ich. »Ich denke nicht.«
»Du gehst nicht?« rief meine alte Kameradin aus. »Warum denn nur nicht?« »Meine liebe Violet, ich gehöre weder zur Familie, noch kannte ich Ihre Ladyschaft. Außerdem«, fügte ich hinzu, »fühle ich mich von gestern noch immer ein wenig erschöpft, und ein Nachmittagsschläfchen könnte nicht schaden, denke ich.«
Das war gelogen. Aber ich hatte nicht die Absicht, Vi meine Pläne für den Nachmittag in Anwesenheit meiner neuen Bekanntschaft mitzuteilen.
»Oh«, antwortete sie mit einem kindlichen Gejammer, »da bin ich aber enttäuscht. Du gehst nicht mit.«
»Nun dann«, sagte der Doktor, »wir sehen uns zweifellos später noch.«
»Dr. Morley, einen Augenblick, bitte«, sagte ich, wobei ich mich von meinem Stuhl erhob.
»Ja?«
»Als Sie heute morgen die Leiche untersuchten«, fragte ich, als sei dies nichts weiter als ein beiläufiger Gedanke, »schien es Ihnen so, als habe ein Kampf stattgefunden?«
»Nein.«
Das war’s. Sonst nichts. Ich hatte gehofft, er sei etwas mitteilsamer, aber es schien, als gleiche der Versuch, Informationen von ihm zu erhalten, dem Vorhaben, einen Diamanten zu behauen. Dennoch ließ ich mich nicht so leicht abwimmeln. »Sie fanden nichts, was vielleicht darauf hinweisen könnte, daß. ?«
Er versteifte sich etwas, während sein vormals gewinnendes Lächeln langsam in den Mundwinkeln verschwand.
»Was ich herausgefunden habe, Mrs. Hudson«, antwortete er mit Worten, die freundlich und gleichzeitig verärgert klangen, »ist genau das, was Inspektor Thackeray Ihnen schon sagte. Die junge Frau wurde durch einen Schlag mit einem schweren, stumpfen Gegenstand auf den Kopf getötet.«
»Diesmal keine Spur von Chloroform, Doktor?« bemerkte Vi und stand ebenfalls auf. Ich schrie innerlich auf angesichts dieser Unvorsichtigkeit meiner Freundin, die das wenige, was wir wußten, preisgegeben hatte. Ich wartete seine Reaktion nervös ab. Ah, da war sie: Ein kaum erkennbares Anheben einer Augenbraue, oder war es lediglich ein Zucken? Hatte sich ziemlich gut unter Kontrolle, unser Dr. Morley.