»Chloroform? Ich, äh, habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Mrs. Warner.«
»Die Leiche der jungen Frau wies keine anderen Verletzungen auf, Doktor, als die von Ihnen schon beschriebenen?« Ich stellte ihm die Frage in der Hoffnung, sie möge Violets Erwähnung des Chloroforms, zumindest im Augenblick, aus seinem Gedächtnis löschen. Während ich auf eine Antwort wartete, sank die Temperatur der einst so warmen blauen Augen beträchtlich. »Mrs. Hudson«, erwiderte er, indem er meiner Frage geschickt auswich, »ich kann leider Ihr Interesse an all dem nicht nachvollziehen. Haben Sie eine gewisse medizinische Bildung?«
Was sollte ich darauf antworten? Vi kam mir zu Hilfe.
»Ach, kommen Sie, Doktor«, erwiderte sie mit einem unbeschwerten Kichern, »Sie wissen doch, wie wir Frauen sind. Ein kleines bißchen Klatsch und Tratsch würde Em und mir nicht schaden, um nächste Woche beim Frauennähkreis im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.«
Gut gemacht, Vi!
Obwohl das spontane Märchen meiner Freundin uns als zwei dämliche, klatschsüchtige alte Weiber hinstellte, brachte es uns eine Antwort ein.
»Der Leichnam«, antwortete er, wobei er sich im Zimmer umschaute, als suchte er einen Weg, der ihm die Flucht vor diesen schrecklichen alten Frauen ermöglichte, »wird natürlich vom örtlichen Coroner in Twillings im Hinblick auf die Todesursache noch gründlicher untersucht. Ich würde vorschlagen, meine Damen, wenn Sie weitere Informationen benötigen, wenden Sie sich doch am besten an ihn. Wenn Sie mich nun entschuldigen.«
»Nun, Em«, flüsterte Vi, nachdem sich der gute Doktor von uns verabschiedet hatte, »was hältst du von ihm?« »Äußerlich recht sympathisch, würde ich sagen. Bis man ihm zu nahe kommt, dann geht eine Schranke runter, die so abweisend ist wie die chinesische Mauer.«
»Mhm, das stimmt wohl«, antwortete Violet. »Allerdings haben Ärzte es nie so gern, wenn man ihr Urteil in Frage stellt, oder?«
Ich bemerkte, daß der Inspektor, der durch die Palme vor der Glastür teilweise verdeckt war, sein Gespräch mit dem Squire beendet hatte und sich verabschieden wollte.
»Vi«, sagte ich, »es gibt da etwas, worüber ich mit dem Inspektor reden will. Es ist vielleicht besser, wenn ich allein gehe. Macht es dir etwas aus?« Mit ihrer Zustimmung durchquerte ich das Zimmer und ging durch die Glastür zu dem Inspektor, wobei ich mich etwas unsicher fragte, wie mein Anliegen wohl aufgenommen würde.
»Inspektor Thackeray?«
»Ja, Mrs. Hudson?«
Ich führte ihn unauffällig am Arm nach draußen, da ich ihn lieber unter vier Augen sprechen wollte.
»Der Leichnam der jungen Frau, wurde er in der Zwischenzeit fortgeschafft?«
»Ich wollte mich gerade darum kümmern. Warum fragen Sie?«
»Ich würde die Leiche gerne sehen.«
»Eine äußerst makabre Bitte, Mrs. Hudson, wenn ich das sagen darf«, antwortete er und beobachtete mich eingehend. Dann fügte er hinzu: »Gibt es etwas, das Sie mir verschweigen?«
Ich glaubte nun, daß es klüger wäre, offizielle und professionelle Hilfe zu suchen. Mr. Holmes hatte auch in einigen Fällen Gebrauch von der Polizei gemacht, und ich dachte, die Situation erfordere es nun, daß der Inspektor von den Ereignissen - so wie ich sie sah - in Kenntnis gesetzt wurde, zumindest bis zu einem gewissen Grade. Da es mein erster Fall war, entschied ich jedoch, daß es am besten wäre, vorsichtig vorzugehen.
»Ich erkläre es Ihnen draußen ausführlicher«, vertraute ich ihm deshalb an.
Er betrachtete mich einen Augenblick argwöhnisch und antwortete dann: »Also gut, Mrs. Hudson, kommen Sie mit.«
8. Grund zum Töten
Wir folgten einem steinigen Weg, der sich durch die landschaftlich schöne Umgebung des Gutes schlängelte, und stiegen dann einige Steinstufen hinab, die in die sanft abfallenden Hügel gesetzt worden waren, bis wir schließlich auf ebener Erde standen. Bäume, die fast vollständig ihres herbstlichen Laubwerkes beraubt waren, gestatteten mir einen eingeschränkten Blick auf einen kleinen See, der in verärgerter Erregung auf einen immer stärker werdenden Ostwind reagierte. Da die Sonne in ein atmosphärisches Versteckspiel mit schiefergrauen Wolken von unheilvollem Ausmaße vertieft war, beglückwünschte ich mich innerlich, an meinen Schal gedacht zu haben. Da innerhalb der Gemäuer von Haddley nur wenig Wärme zu finden war, hatte ich ihn vorsichtshalber schon am Morgen beim Ankleiden umgelegt. Während ich ihn nun noch fester um mich wickelte, stellte ich mir vor, an einem herrlich warmen Junitag hier zu sein - ein riesiger Strohhut auf dem Kopf, Pinsel und Staffelei vor mir - und eine Unzahl von Farben glücklich auf die Leinwand aufzutragen.
»Es muß im Sommer hier sehr schön sein«, sagte ich mit einem Blick über das jetzt kahle Gelände.
»Das war es früher auch«, antwortete der Inspektor, der den Mantelkragen hochschlug und dann die Hände tief in die Taschen steckte. »Aber es wird nicht mehr so gepflegt wie einst. So wird es zumindest erzählt.«
»Von wem?«
»Von den Leuten im Dorf, Madam, aus Twillings.« Er sprach weiter, ohne langsamer zu gehen, und ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Es gab eine Zeit, als der alte Junge, Seine Lordschaft, der Earl von Haddley, sollte ich wohl sagen, die Gartenanlagen an einem Wochenende im Sommer für die Dorfleute zugänglich gemacht hat. Große Zelte wurden aufgebaut, Musiker engagiert, die über das Gelände zogen, und Erfrischungen wurden angeboten. So etwas in der Art.« »Sie selbst waren nie dabei?«
»Lord St. Clair war schon über drei Jahre tot, als ich meine Stellung hier antrat. Man sagt, seine Frau hätte die Tradition sehr gern aufrechterhalten. Aber die da«, fügte er mit einer Kopfbewegung in Richtung auf das Gutshaus hinzu, »haben den Brauch seit dem Tod Seiner Lordschaft abgeschafft.«
»Die Familie ist nicht allzu beliebt, nehme ich an?«
»Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen, Mrs. Hudson.«
Womit er meine Frage beantwortet hatte.
»Sie kommen aus London, nicht wahr, Inspektor?«
Er sah mich fragend an.
»Ihr Akzent«, antwortete ich lächelnd.
»Oh, ja. Meine Gattin stammt allerdings aus dieser Gegend. Ihr hat die schmutzige und verbrecherische Großstadt nie gefallen. Mir übrigens auch nicht. Als sich die Gelegenheit in Twillings bot, sind wir gegangen. Und es war immer recht friedlich hier - bis jetzt, kann ich nur sagen. Die Akten zeigen, daß es hier seit über fünfzehn Jahren keinen Mord gegeben hat.«
Bei dem Stichwort Mord ergriff ich die Gelegenheit, die Unterhaltung auf das junge Mädchen zu lenken. »Es ist zu schade«, sagte ich, »daß Sie noch keinen Hinweis auf die Identität des Opfer gefunden haben.«
»Als sei sie vom Himmel gefallen«, erwiderte er.
»Ein gefallener Engel, Inspektor?« fragte ich ein wenig scherzhaft.
»Engel? Das glaube ich kaum, Mrs. Hudson«, antwortete er in gleicher Manier. »In all den Jahren in diesem Geschäft bin ich noch nie einem Engel, ob gefallen oder sonstwas, begegnet. Ah, da sind wir ja. Der Pavillon«, sagte er und wies auf ein alterndes hölzernes Bauwerk, das von einem Meer aus Laub umgeben war, welches von seinem einzigen Kameraden, einem riesigen Ahornbaum, stammte. Unter dem Baum stand ein Constable mit Pferd und Karren und daneben ein Junge von etwa achtzehn Jahren, zu dessen Füßen der zugedeckte Leichnam des Opfers lag.
In der Tat ein äußerst finsteres Begrüßungskomitee.
»Wie bist du denn so schnell hierher gelangt, mein Junge?« fragte Thackeray den jungen Mann mit dem zerzausten Haar und dem verängstigten Blick.