Diese Talente verfeinerten sich in den folgenden Jahren immer mehr zu einer besonderen Scharfsinnigkeit, da ich das Glück hatte, aus nächster Nähe einen Mann beobachten zu können, dessen Intellekt denjenigen aller mir bekannten Menschen übertraf. Man hielt ihn für den besten Ermittler in ganz England. Andere haben diese Behauptung als zu einschränkend verurteilt und zogen es vor, ihn als den größten Meister in der Kriminalgeschichte des Britischen Empires anzusehen. Auch wenn ich zugeben muß, daß er nicht sehr viel von Bescheidenheit hielt, so bezeichnete er sich selbst, wenn er gefragt wurde, schlicht und einfach als Privatdetektiv. Aber ich komme vom Thema ab.
Drei Monate nach dem Ableben meiner Mutter bat mich William Hudson um meine Hand. Ich war die glücklichste aller Frauen. Denn ich sollte nicht nur einen guten und liebenswürdigen Mann heiraten, sondern hatte auch von dem Anwalt meines Vaters erfahren, daß ich finanziell abgesichert sei. Obwohl ich nicht so anmaßend sein möchte, mich als Erbin zu bezeichnen, so war der Nachlaß doch ausreichend, um einem frisch verheirateten Paar das Erklimmen der ersten Sprosse auf der Leiter des Lebens zu ermöglichen.
Bevor ich jedoch Williams Antrag annahm, stellte ich zwei Bedingungen, hinsichtlich derer ich unerbittlich war. Zum einen sollte eine Heirat erst stattfinden, nachdem ein Jahr der Trauer um meine Mutter vergangen war. Zum anderen bestand ich darauf, daß William nicht mehr zur See fahren sollte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich wußte nur allzugut, daß diejenigen am meisten litten, die an Land auf die Rückkehr ihres Liebsten warteten. Wie oft sah ich Mutter mit geröteten Augen auf die See hinausstarren, ängstlich wartend auf das Auftauchen eines Segels am entfernten Horizont. Ich hatte einen Vater an die See verloren - ich wollte nicht auch noch einen Ehemann an sie verlieren.
Ich nahm zu Recht an, daß William bereitwillig einer Zeit der Trauer zustimmte, aber ich muß gestehen, daß ich etwas verwundert war, als er sich damit einverstanden erklärte, das Leben auf See hinter sich zu lassen. Wenn ich heute darüber nachdenke, hätte ich wohl nicht so überrascht sein müssen. Seit seiner Rückkehr hatten ihn nächtliche Visionen der Gesichter meines Vaters und seiner toten Mannschaftskameraden verfolgt und sollten dies auch bis an das Ende seines Lebens tun. Obwohl er mir nur wenig von dem Untergang der Albatros und seiner anschließenden Rettung berichtete, so konnte ich doch über die Jahre hinweg in Erfahrung bringen, was sich in jenen schicksalhaften Monaten, die er auf der anderen Seite der Erde verbrachte, zugetragen hatte.
Der Monsun hatte derart gewaltig und heftig zugeschlagen, daß viele Männer, mein zukünftiger Ehemann eingeschlossen, fast unmittelbar von Bord gespült wurden. Nachdem er in ein Meer von donnernden Winden und bedrohlichen Wellen geworfen worden war, hatte William das ungeheure Glück, ein zerbrochenes Rundholz zu erspähen und zu ergreifen. Um sein Leben ringend klammerte er sich daran fest und trieb fast die ganze Nacht auf den aufgewühlten Gewässern, bis die See den unseligen Körper an einen verlassenen Strand spie.
Nachdem er am nächsten Morgen erwacht war, machte er sich auf, um die Insel zu erkunden. Auf allen vieren erklomm er eine Anhöhe an der Nordküste, von der aus er ein in der Bucht vor Anker liegendes Schiff erblickte, dessen Mannschaft malaiischer Piraten unten am Strand lagerte. Die auf keiner Karte verzeichnete Insel mit ihren verborgenen kleinen Buchten, so mutmaßte er, wurde von diesen asiatischen Abenteurern als Ausgangspunkt benutzt, von dem sie auslaufen konnten, um Handelsschiffe zu überfallen, die auf dem Südchinesischen Meer segelten. Da er allein und unbewaffnet war, hielt er klugerweise während des Tages und bis in die lange Nacht hinein aufmerksam Wache im Verborgenen.
In den frühen Morgenstunden schlich er verstohlen den Hang hinunter und um die schlafenden und berauschten Piraten herum. Rasch und leise manövrierte er ein Boot vom Wassersaum in die Brandung hinein, ruderte mit tiefen und lautlosen Schlägen aufs offene Meer hinaus und gönnte sich erst eine Pause, als sowohl das Schiff als auch die Insel am Horizont verschwunden waren.
Und damit begannen vier Tage und Nächte endlosen Ruderns, bis er - nahezu bewußtlos und phantasierend - gesichtet und an Bord der City of Bombay, eines holländischen Ostindienfahrers mit Kurs auf London, genommen wurde.
Auch wenn Mutter und ich über die gesunde Rückkehr Williams natürlich überglücklich waren, so löste das Wissen um das Schicksal meines Vaters bei uns beiden doch eine gewisse Schwermut aus. Als meine Mutter verstarb, mischte sich meine Trauer um sie mit der Aufregung angesichts der auf mich zukommenden Ehe.
Und so wurde ich dann an einem strahlend sonnigen Tag im Juni, ein Jahr, nachdem Mama zur letzten Ruhe gebettet worden war, die Frau William Hudsons. Frohen Herzens und ohne Sorgen reisten wir mit zweifacher Absicht nach London. Wir beabsichtigten, unsere Flitterwochen in dieser Stadt zu verbringen und gleichzeitig ein sowohl privates wie auch geschäftliches Treffen mit Mr. Albert Warner wahrzunehmen, einem ehemaligen Seefahrer und Jugendfreund meines Mannes.
Mr. Warner war zu dem Zeitpunkt der Inhaber eines Geschäftes für Schiffsausrüstung in London. Er hatte William geschrieben, um in Erfahrung zu bringen, ob mein Mann an einer Teilhaberschaft interessiert sei. Dies erwies sich als die ideale Lösung, denn für einen Mann, der den größten Teil seines Lebens zur See gefahren war, gab es nur wenig Möglichkeiten, an Land eine lukrative Anstellung zu finden.
Ich war von London vollkommen hingerissen. Der Leser möchte berücksichtigen, daß ich zu jener Zeit nicht gerade das war, was man einen welterfahrenen Menschen nannte. Mein Wissen über das, was jenseits der Umgebung von Portsmouth lag, beschränkte sich auf die seltenen Gelegenheiten, zu denen ich als Kind am Herd saß, während Papa - mit der Pfeife in der Hand und einem Glas Brandy neben sich - Geschichten von entlegenen Orten und entfernten Horizonten erzählte. Macao, Chungking, Rangun, Mandalay - selbst nun, während ich schreibe, erfüllt mich der Rhythmus dieser Namen, die einem so leicht auf der Zunge zergehen und die Geheimnisse von Abenteuern im Fernen Osten heraufbeschwören, mit einem Gefühl der Erregung. Diese Liebe für das Unbekannte, herausfinden zu wollen, was hinter dem nächsten Berg liegt beziehungsweise hinter der nächsten Tür, habe ich nur meinem Vater zu verdanken und den Geschichten, die er in jener schönen, lang vergangenen Zeit am knisternden Feuer erzählte.
Wir kamen zu dem mit Mr. Warner vereinbarten Zeitpunkt an unserem verabredeten Ziel an, und nachdem ich aus der Kutsche gestiegen war, trat ich einen Schritt zurück, um den zukünftigen Arbeitsplatz meines Mannes besser in Augenschein nehmen zu können.
Ich erinnere mich an die hellblaue Farbe des Geschäftes. An beiden Seiten des Einganges befanden sich Fenster, in denen eine verschiedenartige und stattliche Auswahl an Zubehör für die Schiffahrt gefällig ausgestellt war. Dies, zusammen mit der Tatsache, daß das Geschäft so nahe an dem Verschiffungsgelände lag, machte es zu all dem, was wir uns erhofft hatten.
Die Tür des Ladens wurde von einem kräftigen, schwergewichtigen Mann aufgerissen, der uns mit einem herzlichen Lächeln entgegenkam, meinen Mann überschwenglich begrüßte und sich mir als Albert Warner vorstellte. Wir wurden von der Straße in das Geschäft geführt, wo nach der Besichtigung der Räumlichkeiten die Einladung ausgesprochen wurde, die Wohnräume der Warners im oberen Teil des Hauses aufzusuchen. Dort stellten wir fest, daß seine Frau einen Tisch für uns vier vorbereitet hatte.
Sie war aus Manchester. Ein recht hübsches junges Ding mit einem geistreichen Humor, einem spontanen Lächeln und einer Figur, die ich (wenn ich doch nur im Besitz von Aladins Lampe gewesen wäre) bereitwillig gegen die meine getauscht hätte. Nachdem nun vierzig Jahre seit jenem ersten Treffen vergangen sind, hat die Zeit, nicht der Geist der Lampe, eine Aufhebung des ursprünglichen Wunsches mit sich gebracht - insofern, als jene Figur von vor vierzig Jahren nun der meinen entspricht.