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»Nie. Obwohl eine Zeitlang Briefe ankamen, die in Kanada abgestempelt waren.« Er schwieg einen Moment. »Oder war es in Australien? Jedenfalls«, fuhr er fort, »nahmen Mrs. Hogarth und ich an, sie seien von der Frau des Squires.«

Als ihm die Fülle der Informationen bewußt wurde, die er gerade vermittelt hatte, flehte mich der ehrwürdige alte Herr mit deutlichen Worten an, das Gehörte unbedingt vertraulich zu behandeln. Ich versicherte ihm überaus glaubhaft, daß ich dies tun würde, woraufhin ihn ein ruhiges und tiefes Gefühl von Erleichterung überkam.

Wir gingen schweigend weiter, bis ich von Hogarth gefragt wurde, ob die Informationen, die mir nun anvertraut waren, in irgendeiner Weise meinen Untersuchungen dienlich wären.

»Im Moment«, antwortete ich mit einem müden Seufzer, »ist alles Nahrung für meine grauen Zellen.«

»Ah, da wir gerade von Nahrung sprechen, Mrs. Hudson«, verkündete mein neuer Vertrauter, als wir uns der Tür am Ende des Flures näherten, »die Küche wartet.«

Alle Gedanken an weitere Fragen verblaßten, als plötzlich Bilder von köstlichem Roastbeef vor meinen Augen schwirrten.

10. Das Zimmer im obersten Stockwerk

Mit dem Schlüssel in einer Hand, der Kerze in der anderen, einer Handtasche, die an meinem Gelenk hing, und einem Gefühl der Beklommenheit im Herzen ging ich vorsichtig einen scheinbar nie enden wollenden Flur entlang, der in Schwärze und böse Vorahnung getaucht war.

Ich erinnerte mich daran, daß Hogarth erwähnt hatte, daß es über anderthalb Jahrhunderte her war, seit diese oberen Räume zuletzt bewohnt gewesen waren, und ich hatte das Gefühl, als hätte ich einen Zeittunnel betreten, in dem jeden Moment eine Tür aufgerissen werden würde, und zwar von einer nebligen Erscheinung aus dem 17. Jahrhundert, die eine Erklärung für meine unerwünschte Anwesenheit forderte.

So, wie die Dinge lagen, tröstete mich der Gedanke nur wenig, daß mein Schatten, der durch die flackernde Flamme in Größe und Gestalt verzerrt wurde, mein einziger Begleiter war. Wie sehr ich mir doch aus tiefstem Herzen wünschte, daß Vi bei mir gewesen wäre!

Wenn die Stimmen, die mich geweckt hatten, in der Tat aus dem Raum über dem Schlafzimmer von Violet gekommen waren, dann mußte die Tür, vor der ich nun stand, gezwungenermaßen diejenige sein, die ich suchte. Ich drückte mein Ohr dagegen und lauschte -warum, weiß ich wirklich nicht. Ich nehme an, es war eine natürliche Reaktion, aber ich hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß sich noch jemand darin aufhalten sollte.

»Bitte, Herr«, sagte ich in einem stillen Gebet, »wenn doch, mach, daß sie noch leben.« Bei meiner augenblicklichen Verfassung konnte ich nur den Anblick einer einzigen Leiche pro Tag vertragen.

Ich steckte den Schlüssel ins Schloß.

Ich drehte den Knauf und war überrascht, wie lautlos die Tür aufging. Dies war keine knarrende Tür - eine stillschweigende Huldigung an die Qualität der Handarbeit eines anderen Zeitalters.

Verschüchtert stand ich in der halboffenen Tür.

Während sich das Tageslicht langsam im Abend verlor, versuchte es mit geringem Erfolg, ein mehrfach verglastes, stark verschmutztes Fenster zu durchdringen, das sich am anderen Ende des Zimmers befand. Dieses wenige Licht, zusammen mit dem der Kerze, genügte mir, um ein Zimmer zu erkennen, das bis unter die Decke mit großen Holzkisten und Kartons unterschiedlicher Formen und Größen vollgestellt war. Kleinere Kunstgegenstände und unzählige goldgerahmte Gemälde lagen verlassen auf verschiedenen Sofas, Diwanen, Couches und Stühlen, die mit Bettlaken abgedeckt waren. Ein gräulicher Alptraum von einem Zimmer, das in den Staub vergangener Jahrzehnte eingehüllt war.

Guter Gott! Während ich auf die Artefakte vor mir starrte, ging mir durch den Kopf, daß dieser Ort ein Miniaturmuseum sei. So großartige Schätze wie diese sollten ordentlich ausgestellt werden. Der Gedanke, daß es einem Publikum vorbehalten blieb, das aus Ratten, Mäusen und Spinnen bestand, war unerträglich!

Ich war nun eher verärgert als verängstigt und fragte mich, ob es sich überhaupt lohnte einzutreten, als ich durch Zufall nach unten schaute und auf dem staubbedeckten Boden verblüffenderweise unmißverständliche Abdrücke sah, welche deutlich erkennen ließen, daß sie von Schuhen beider Geschlechter stammten.

Ich ging hinein und folgte der Spur so mühelos wie ein Jäger, der einem Eselshasen in frischem Puderschnee nachspürt. Ich marschierte durch das Labyrinth von Kisten und Kartons, bis der verräterische Pfad hinter einer großen Holzkiste endete, die als Trennwand für das eiserne Feldbett dahinter diente. Selbst für Thackeray wäre es zu erkennen gewesen, daß die letzte Person, die sich in dieses Feldbett mit seinen zerknitterten Bettlaken und zerknüllten Kissen gelegt hatte, diesem Jahrhundert entstammte, nicht dem letzten.

Ich hegte keinen Zweifel mehr daran, daß dies das Zimmer war, aus dem in der Nacht zuvor die Stimmen gedrungen waren. Eine Haarnadel, die halb versteckt unter dem Kissen lag, fiel mir ins Auge. Eine Flasche Wein, dreiviertelleer, stand auf einem kleinen Tisch neben dem Feldbett. Ein umgekipptes Glas schaute auf seinen zerbrochenen • Kameraden herunter, der auf dem Boden lag.

Als ich das Fenster untersuchte, sah ich, daß in einer Ecke der Scheibe eine kleine Fläche vom Schmutz befreit worden war, was den Blick auf einen Teil der Gartenanlagen erlaubte. Während ich dort stand, verharrte eine Maus - vollkommen gleichgültig angesichts meiner Anwesenheit - lange genug zu meinen Füßen, um an einem Krümel zu knabbern, bevor sie ins Dunkel huschte. Ich hob die Überreste ihres Mahls auf und sah, daß es ein Kuchenrest war: alt, sicher, aber keine hundertfünfzig Jahre alt.

Hier hatte also unser mysteriöser Besucher gewohnt, geschlafen und gegessen, wobei nichts darauf hinwies, daß sie - denn es konnte niemand anderes als die tote junge Frau gewesen sein - ein unfreiwilliger Gast gewesen war. Sicher, denn hätte sie gegen eine lange und gewaltsame Gefangenschaft schreiend protestieren wollen, dann wären ihre Rufe gehört worden. Warum war sie dann hiergeblieben? Und wie lange? Länger als vierundzwanzig Stunden, dessen war ich mir sicher, aufgrund der Überreste des Mahls und der braunhäutigen Apfelkerne, die verstreut auf einem kleinen Tisch neben dem Bett lagen. Aber warum wurde sie in einem unbenutzten Zimmer versteckt? Und auf wessen Geheiß? Erst jetzt wurde mir bewußt, daß Ermittlungen zur Aufklärung von Verbrechen eine recht frustrierende Beschäftigung sein konnten.

Ich stellte die Kerze auf den Tisch, kniete mich nieder und fuhr mit einer Hand blind über den Boden unter dem Feldbett, in der Hoffnung, daß meine Finger etwas fühlen würden, was meine Augen nicht sehen konnten. Wenn ich nur den zweiten Ohrring dieses armen unglückseligen Geschöpfes finden würde, wäre das ein Beweis, der von jedem Gericht anerkannt würde - im Gegensatz zu meiner lediglich persönlichen Annahme, daß das ermordete Opfer vor ihrem frühzeitigen Tod auf dem Gut gewohnt hatte. Aber leider fand ich keinen solchen Ohrring.

Meine Hand traf allerdings auf einen Gegenstand weitaus größeren Ausmaßes. Ich zog sie zurück und sah, daß ich eine kleine Marmorstatue in Form eines Engels mit einer Höhe von ungefähr achtzehn Zoll hervorgeholt hatte. Ich stellte sie vorsichtig auf den Tisch, setzte mich auf das Feldbett und rückte die Kerze etwas näher an meinen Fund heran. Da saß ich nun, fasziniert von der äußeren Schönheit eines unschuldigen kleinen Engels, welcher in den sanften Schein des Kerzenlichts gehüllt war und den Blick gen Himmel gerichtet und die Arme vor Freude und Verehrung ausgestreckt hatte, als hieße er den Schöpfer persönlich zu einer Audienz willkommen. Als ich den Sockel langsam drehte, um dieses vorzügliche Exemplar einer Skulptur - nach meiner Schätzung aus dem 17. Jahrhundert - besser bewundern zu können, war ich entsetzt, als ich an der Seite des Kopfes einen Makel entdeckte, der sich noch weiter über den Rücken ausdehnte. Die Sache weckte mein Interesse in einem solchen Maße, daß ich die Kerze noch ein wenig näher rückte, um eine genauere Untersuchung vorzunehmen. Es schien, als habe der kleine Engel einen tödlichen Schlag auf den Kopf erlitten und als sei der seine Vollkommenheit ruinierende rotbraune Fleck Blut, das aus der Wunde geflossen war.