Wenn ich heute zurückdenke, so glaube ich, es war meine Analogie von Blut und Fleck, die mich zurück in die Realität holte. Wie begabt jener Künstler dieses jahrhundertealten Werkes auch gewesen sein mag, nicht einmal Michelangelo hätte diesen marmornen Körper zum Leben erwecken können. Oh nein, es war wirklich Blut. Das konnte ich durch eine nähere Untersuchung feststellen. Und zwar nicht des Engels.
Die nähere Untersuchung, auf die ich anspiele, bezieht sich auf meinen Gebrauch des Vergrößerungsglases von Mr. Holmes. Oder zumindest auf eines der vielen solcher Gläser, die der Herr sich über die Jahre hinweg zugelegt hat. Sollte Mr. H. jemals diese Zeilen lesen, die ich nun schreibe, dann kann er versichert sein, daß sich der besagte Gegenstand schon seit langer Zeit wieder in der Kommode vor dem Fenster befindet. Daß ich ihn an mich genommen habe, kann ich nur damit erklären, daß ich Mr. Holmes nun mal auf Haddley vertreten wollte und ich das Gefühl hatte, der fragliche Gegenstand, mit dem er seit langem assoziiert wurde, verleihe mir ein gewisses Maß an Professionalität. Ein glücklicher Zufall jedenfalls, denn nachdem ich das Glas aus meiner Handtasche hervorgeholt hatte, merkte ich, daß seine Vergrößerung es müden Augen erlaubte, feine Haare zu erkennen, welche in den Fleck auf der Statue eingebettet waren.
Ich nahm den marmornen Engel vorsichtig hoch, wiegte ihn auf meinem Arm, wie eine Mutter es mit ihrem Kinde täte, und verließ den Tatort des Mordes, wobei ich mir innerlich zu dem Fund des stumpfen Gegenstandes gratulierte, der für den Tod der jungen Frau, deren Leichnam ich erst an diesem Morgen untersucht hatte, verantwortlich war.
Nach dem Dinner verzichteten Vi und ich auf ein Dessert von Fruchteis, zogen uns diskret vom Tisch zurück und begaben uns in das Arbeitszimmer.
»Die Mahlzeit war in etwa so lustig wie eine Abendmahlsfeier!« sagte meine Freundin und ließ sich in den Sessel mir gegenüber fallen. »Wirklich, ich hätte es sogar begrüßt, wenn der Colonel ein oder zwei Äußerungen von sich gegeben hätte“: Obwohl er sonst ein ziemlicher Trottel ist.«
»Ich denke«, antwortete ich, »der Mangel an Konversation war verständlich. Es war für keinen von uns ein sehr angenehmer Tag.«
»Mhm, besonders für sie - falls die überhaupt irgendein Gewissen haben. Hättest Lady Margaret bei dem Gottesdienst sehen sollen, Em. Heulte vor sich hin und wischte sich die Augen, als wäre sie ach wie untröstlich. Mensch, man hätte denken können, sie wohnt dem Begräbnis vom Weihnachtsmann persönlich bei! Und ich sag’ dir noch was«, fügte sie mit erhobenem Finger hinzu. »Es würde mich nicht im geringsten überraschen, wenn Lady Arrogant selbst meine Herrin umgebracht hätte.«
»Es ist recht leicht«, entgegnete ich, »jemanden zu verdächtigen, vor dem man wenig Achtung hat, aber das bedeutet nicht unbedingt, daß Lady Margaret für alles verantwortlich ist, außer für ihr wirklich unangenehmes Benehmen.«
»Du hast wahrscheinlich recht«, antwortete sie seufzend. »Aber nun sag mal«, meinte sie und betrachtete mich aufmerksam, »was hältst du von all dem, was hier so vor sich geht?«
»Nichts«, gestand ich. »Außer daß wir innerhalb von zwei Tagen nicht nur mit einem, sondern mit zwei Morden konfrontiert wurden, die nach allem, was wir wissen, miteinander in Zusammenhang stehen
- oder auch nicht.«
»Ich verstehe«, antwortete sie erneut mit einem Seufzer. »Dann sind wir nicht viel weiter als vorher, richtig?«
»Das würde ich nicht behaupten«, erwiderte ich. »Denn das, was ich heute nachmittag entdeckte, hat mir sehr dabei geholfen, eine Beweisgrundlage zu schaffen, auf der wir nun aufbauen können.«
»Was du heute entdeckt hast? Heute nachmittag? Was hat das denn zu bedeuten? Dachte, du bleibst hier, um ein kleines Nickerchen zu machen.«
Ich bat sie um Entschuldigung, daß ich sie nicht früher über meine Aktivitäten aufgeklärt hatte, aber dies - so erklärte ich ihr - war schließlich meine erste richtige Gelegenheit seit ihrer Rückkehr von dem Begräbnis, mich in Ruhe hinzusetzen und die Ereignisse des Tages, so wie sie sich abgespielt haben, mit ihr zu diskutieren.
Ich erzählte ihr in allen Einzelheiten von meiner Untersuchung des Leichnams des ermordeten Mädchens, von der anschließenden Verhaftung von Will Tadlock, von dem geheimen Zimmer, in dem sich das Opfer aufgehalten hatte, und von meinem Fund, dem blutbefleckten Engel, den ich später für sie aus seinem jetzigen Versteck unter den zusammengelegten Kleidungsstücken in der untersten Schublade ihrer Kommode hervorholen würde.
Sie hörte mit offenem Mund erstaunt zu, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen, bis die ganze Geschichte erzählt war, und meinte dann: »Du warst wirklich fleißig, das kann man wohl sagen! Du liebe Güte, Mr. Holmes wäre sicher so stolz auf dich!«
Auch wenn ich mich geschmeichelt fühlte, so blieb doch jegliche Antwort, ob bescheiden oder auch nicht, unausgesprochen, da sie unmittelbar fortfuhr:
»Und der arme Will, wegen Mordes verhaftet!« rief sie aus. »Mensch, der könnte ebenso wie du oder ich keiner Fliege etwas zuleide tun. Und stell dir vor, er und Mary. Haben sich heimlich getroffen, sagst du?«
»Wenn man dem jungen Mann glauben kann, ja. Hat das Mädchen dir gegenüber jemals erwähnt, daß sie sich mit ihm traf?«
»Nein, kein Wort. Aber es sieht Will nicht ähnlich zu lügen. Nicht daß er so ehrlich ist, wohlgemerkt. Er ist einfach nur nicht so schlau, wenn du weißt, was ich meine.«
»Und doch sagt Mary, daß sie ihn in der vergangenen Nacht überhaupt nicht gesehen hat.«
»Nun, schau mich nicht an«, erwiderte sie verzweifelt. »Ich hab’ keine Ahnung, was ich von all dem halten soll.«
»Ich auch nicht«, antwortete ich. »Deshalb habe ich zuvor die Gelegenheit ergriffen und Hogarth gebeten, das Mädchen nach dem Mahl zu uns zu bringen.« Da der Butler erwähnt hatte, daß sich die Familie gewohnheitsmäßig nach dem Dinner zusammen mit dem Colonel und dem Doktor in das Musikzimmer zurückzog, hielt ich das Arbeitszimmer für den sichersten Ort, um ein Treffen mit Mary zu arrangieren.
»Nach dem, was du mir so erzählt hat, scheint es, als hättet ihr, du und Hogarth, euch gleich richtig gut verstanden. Etwas zu alt für dich, findest du nicht, meine Liebe?«
»Oh, Vi, also wirklich!« Was ich sonst noch hätte hinzufügen wollen, wurde durch ein leichtes Klopfen an der Tür unterbunden.
»Die O’Connell!« flüsterte ich aufgeregt. »Ich denke, es würde unserer Absicht am dienlichsten sein, wenn wir so tun, als wüßten wir mehr, als es der Fall ist, wenn wir sie befragen.«
»So tun, als wüßten. ?«
»Psst! Mach einfach mit.«
Ein hübsches Mädchen, nicht älter als zwanzig, wenn überhaupt, bekleidet mit dem obligatorischen schwarzen Kleid, der weißen Schürze und mit einem Spitzenhäubchen auf der hochgekämmten Frisur, betrat schüchtern das Zimmer, lächelte Vi erkennend an und warf mir einen fragenden Blick zu.
»Mrs. Hudson, nicht wahr? Mir wurde gesagt, daß Sie mich sprechen wollten.«
»Ja, Mary«, antwortete ich herzlich. »Mrs. Warner und ich würden uns gern, wenn du erlaubst, ein klein wenig mit dir unterhalten.« Ich wies mit einer Handbewegung auf den Sessel zu meiner Linken. »Bitte, setz dich doch.«
Sie zögerte und warf Vi einen hilfesuchenden Blick zu, so als wolle sie fragen, ob ihr dies anstünde.