Nach dem Verkauf des Hauses meiner Eltern in Portsmouth erwarben William und ich ein kleines, aber gemütliches Heim in der Porter Street, von wo aus es nur ein kurzer Fußweg bis zum Schiffsausrüster war. Es gefiel mir, daß wir uns mit den Warners ganz ausgezeichnet verstanden. Und da das Geschäft gedieh, konnten wir jedes Jahr etwas Zeit erübrigen, um den Kontinent zu bereisen. Unsere Abende verbrachten wir mit Gesprächen in den Varietes, mit Besuchen der neuesten Theateraufführungen und, sofern das Wetter es zuließ, einem gelegentlichen Ausflug an die See nach Brighton. Obwohl weder wir noch die Warners mit Kindern gesegnet waren, empfand ich unser Dasein als ausgefüllt und lohnend.
Ich komme nun leider zu einer Phase in meinem Leben, bei der ich nicht allzu lange verharren will. Ich spreche von dem Tode meines Liebsten in seinem achtundfünfzigsten Lebensjahr. Gott hat in seiner unendlichen Weisheit entschieden, die Seele des gütigsten Mannes, den ich je kannte, von seinem irdischen Körper loszulösen, damit er mit meinem Vater und der Mannschaft auf dem Schiff namens Ewigkeit weitersegeln möge.
Zum ersten Mal in meinem Leben war ich völlig auf mich allein gestellt. Aber wie tief mein Gefühl des Verlustes und der Traurigkeit auch gewesen sein mag, so war ich doch kein Mensch, der sich in Trauer vergrub. Ein Einkommen war zu meinem Unterhalt vonnöten, und welch geeignetere Art gab es, als Zimmer zu vermieten? Da das Haus in der Porter Street zu klein war, um einen solchen Plan durchzuführen, verkaufte ich es, und zusammen mit den Einkünften aus dem Verkauf von Williams Anteilen an dem Geschäft war ich in der Lage, ein zweistöckiges Backsteinhaus in der Baker Street in Londons West End aufzutun und zu kaufen.
Die Warners und ich blieben weiterhin persönlich oder per Brief in Kontakt, aber im Laufe der Jahre sahen und hörten wir immer weniger voneinander, bis wir an den Punkt gelangten, wo nicht einmal mehr eine Weihnachtskarte ausgetauscht wurde. Zu der Zeit schien es, als hätte sich wieder einmal eine Tür hinter mir geschlossen.
Das Haus in der Baker Street warf ein gutes, wenn auch nicht stetiges Einkommen ab. Es war ein wechselhaftes Geschäft, da die Mietzeiten mit Unterbrechungen Zeiträume von zwei Wochen bis zu drei Monaten im günstigsten Fall betrugen. Ich konnte daher von Glück sagen, als zwei Herren mit der Versicherung einzogen, daß ihre Anwesenheit von Dauer sein sollte.
Die oberen Räumlichkeiten - zwei Schlafzimmer und ein geräumiges Wohnzimmer - entsprachen ihren Vorstellungen, und so zogen sie noch am selben Tag samt ihrer Siebensachen ein. Sie hatten noch nicht lange bei mir gewohnt, als ich herausfand, daß der größere der beiden Herren über eine Persönlichkeit verfügte, die ich nur als sprunghaft bezeichnen kann. Er war mitunter zu heftigen Wutanfällen fähig, zu tiefen Phasen der Schwermut und zu bester Stimmung. Der kleinere der beiden war recht umgänglich, litt allerdings gelegentlich unter unklaren Gedankengängen. Ob dies auf eine Verletzung zurückzuführen war, die er in der Schlacht von Maiwand während seines Einsatzes als Armeearzt in Afghanistan erlitt, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall waren sie ein bei weitem lebendigeres und interessanteres Gespann als vorherige Mieter, denn sie brachten einen Hauch von Aufregung in mein recht prosaisch gewordenes Dasein.
Der Leser wird mittlerweile vermutet haben, daß ich über keine Geringeren als Mr. Sherlock Holmes und Dr. John Watson spreche. Obwohl es Vorteile gab, derart vornehme Herren als Untermieter beherbergen zu können, so muß ich doch gestehen, daß ich nicht wenig Zeit benötigte, um mich an das klagende Geräusch einer Geige zu allen Tages- und Nachtzeiten zu gewöhnen, ebenso wie an die merkwürdigen Gerüche, die das Haus bei chemischen Experimenten durchdrangen, welche die beiden Herren zu verschiedenen Gelegenheiten gerne durchführten.
Im Laufe der Jahre hatte Sherlock Holmes in ganz England und im Ausland einen gewissen Rang und Namen errungen, indem er die rätselhaftesten Verbrechen aufklärte, was - wie ich hinzufügen darf - in keinem geringen Ausmaße auf Dr. Watsons veröffentlichte Berichte über die sensationellsten Fälle seines Freundes zurückzuführen war. Zwar wurde ich selbst, wenn auch nur in aller Kürze, von Dr. Watson in einigen der von ihm beschriebenen Fällen erwähnt, jedoch habe ich ihm die Erlaubnis, meinen Namen zu benutzen, nie erteilt. Obwohl nun dies nicht zwingend nötig war, so hätte er doch aus allgemein üblicher Höflichkeit heraus fragen können, so wie ich es beim Verfassen dieser Geschichte getan hätte, wäre der Doktor nicht vor einigen Jahren verstorben. Wie auch immer, jene schriftlich festgehaltene Verbindung von Holmes, Watson und mir war der eigentliche Grund, weshalb ich das Telegramm einer Frau erhielt, die ich seit vielen Jahren nicht gesehen hatte: Mrs. Violet Warner.
2. Meine Reise nach Haddley Hall
Das Telegramm stellte aus zweierlei Gründen ein Rätsel für mich dar. Violets kurzgefaßte Sätze liefen auf die Bitte hinaus, ich möge mich dafür einsetzen, daß Mr. Holmes aufgrund einer sehr dringlichen Angelegenheit unverzüglich nach Haddley Hall käme. Haddley Hall, kaum zu glauben! War das Geschäft der Warners im Laufe der Jahre so gediehen, daß sie sich nun einen Landsitz leisten konnten? Wie Violet selbst gesagt hätte: »Verflixt unwahrscheinlich!« Warum also Haddley Hall? Und was könnte von einer solchen Wichtigkeit sein, daß es die Dienste von Sherlock Holmes erforderte?
Aufgrund der Dringlichkeit der Nachricht und der Tatsache, daß Mr. Holmes und Dr. Watson zu einer vierzehntägigen Reise nach Schottland aufgebrochen waren, machte ich mich am folgenden Morgen selbst auf den Weg nach Haddley Hall.
Meine Reise war äußerst mühsam. Ich hatte einen Zug bis zu dem nächstgelegenen Dorf genommen, und da meine Ankunft auf dem Gut nicht erwartet wurde, weil ich keine telegraphische Antwort geschickt hatte, mußte ich mich nach örtlichen Transportmitteln für den Rest meines Weges umsehen. Nachdem ich in einer Teestube vor Ort einen kleinen Imbiß zu mir genommen hatte, war ich in der glücklichen Lage, auf einen Bauern mit Pferd und Wagen zu treffen, der mir versicherte, er würde auf seinem Heimweg an Haddley Hall vorbeikommen. Da der alte Bauer nicht sehr gesprächig war, fuhren wir schweigend durch eine Landschaft, wie John Constable sie gemalt haben könnte: über staubige, zerfurchte Wege und Hügel in gedämpftem Grün und düsterem Braun. Schließlich trafen wir auf eine Feldsteinmauer, der wir eine gute Viertelmeile folgten, bis wir an einem eher Unheil verheißenden, schwarzen, gußeisernen Tor ankamen.
Der Kerl zog heftig die Zügel an, womit er das arme Tier abrupt zum Anhalten veranlaßte, und mit einem kurzen Fingerzeig in Richtung auf das Tor murmelte er: »Haddley Hall.« Da mir keine hilfreiche Hand zum Aussteigen gereicht wurde, kletterte ich so gut wie nur irgend möglich hinunter und holte mir meinen Koffer aus dem hinteren Teil des Wagens. Nach einem Abschied, der nur aus einem kurzen Kopfnicken und einem flüchtigen Berühren der Mütze mit Daumen und Zeigefinger bestand, trieb der alte Bauer das Pferd an, und zusammen setzten Mann und Tier ihren schweigsamen Weg nach Hause fort.
Ich hatte noch einen Fußweg von gut fünfzehn Minuten auf einem Privatweg vor mir, an dessen Seiten in regelmäßigen Abständen gewaltige Pappeln im italienischen Stil landschaftlicher Gestaltung gepflanzt waren. Was mich betrifft, so hätte ich lieber gute, starke englische Eiche gesehen. Nichtsdestotrotz erreichte ich schließlich mit schmerzenden Füßen, erschöpft und mit Staub bedeckt mein Ziel.
Haddley war ein riesiger Steinbrocken in betont einfachem Stil. Georgianisch, sagte ich mir, obwohl ich zugeben muß, daß das Erkennen unterschiedlicher architektonischer Stile keine meiner Stärken ist. Eines der Gebiete, ermahnte ich mich, denen ich mich nach meiner Rückkehr nach London etwas mehr widmen sollte. Nicht, daß meine Eltern es versäumt hätten, mir eine ordentliche Ausbildung zukommen zu lassen, aber die Pflanze des Wissens muß fortwährend gewässert werden, und ich halte eine hinterfragende Haltung für die notwendige Nahrung, wenn sie wachsen und gedeihen soll.