»Genau«, erwiderte ich. »Und obwohl mir das bis heute nachmittag nicht klar war, ist diese Melodie, meine Liebe, keine andere als die von >Lebe wohl, mein Seemann<.«
Ihr zufriedener Gesichtsausdruck verschwand rasch.
»Was? Die gleiche Melodie wie die von deiner Nora Adams? Aber woher könnte Sir Charles. ?«
Die Frage sollte nicht beantwortet werden, denn in genau dem Moment war mein Blick auf einen Schatten gefallen, der zwischen Tür und Fußboden zu erkennen war und dessen Ursprung im Flur zu suchen war. Ich warnte Vi, indem ich zur Tür wies und unhörbare Worte von mir gab: »Da - lauscht - jemand.«
Daraufhin ergriff sie den neben dem Kamin liegenden Schürhaken, und zusammen pirschten wir vor. Während Vi den Schürhaken fest umklammerte und ihn zur Verteidigung über dem Kopf hielt, griff ich nach dem Knauf, riß die Tür auf und wurde mit einem weißen Schnauzbart konfrontiert. Hinter dem herabhängenden Gestrüpp war ein erschütterter Colonel Wyndgate zu sehen.
»Um Himmels willen, Madam! Was beabsichtigen Sie damit zu tun?« stieß er mit einem mißtrauischen Blick auf den erhobenen Schürhaken hervor.
»Das ist jetzt unwichtig, aber was haben Sie vor der Tür gemacht?« fragte Vi. »Den Wald nach Termiten abgesucht?«
»Den Wald nach.? Meine liebe Frau«, entgegnete er wütend und mit bebenden Wangen, »ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«
»Aber Sie haben doch vor der Tür gestanden, Colonel. Warum?« fragte ich.
»Warum? Warum, Mrs. Hudson? Ich wollte einfach nur, ich meine.«, stotterte er, bis er letztendlich seine Haltung wiedergewann. »Ich war auf dem Weg nach unten, als ich mir dachte, ich könnte um das Vergnügen bitten, die Damen zum Dinner begleiten zu dürfen. Hatte noch nicht einmal Zeit zu klopfen, als. «
»Nun, es ist doch wirklich merkwürdig, daß Sie bisher noch nie darum gebeten haben!« erwiderte Violet unwirsch und wenig überzeugt.
»Und ich bezweifle sehr wohl, daß ich es jemals wieder tun werde!« brummte das Rote-Bete-Gesicht.
»Du kannst den Schürhaken wieder hinlegen, Vi«, lächelte ich. »Ich denke, im Moment sind wir sicher. Und«, sagte ich zu dem alten Soldaten, »da wir tatsächlich gerade großen Hunger verspüren und da es tatsächlich Zeit für das Dinner ist, Colonel, begleiten wir Sie nur zu gern.«
Was die am Tisch Anwesenden betraf, so war ihre Unterhaltung zwar schleppend, aber doch freundlich. Die unterschwelligen Spannungen, die noch herrschten, als ich das letzte Mal mit ihnen zusammensaß, waren von der Speisetafel verschwunden. Es schien, als versuchten sie, die Ereignisse der letzten Tage hinter sich zu lassen. Auch wenn dies an sich lobenswert war, so sollte es sich doch noch vor dem Ende dieses Abends als verfrüht herausstellen.
Nachdem ich Lady Margaret mein Kompliment für das Mahl ausgesprochen hatte und dabei heimlich die übriggebliebenen Reste eines allzu gummihaften Yorkshire-Puddings unter meinem Kartoffelpüree versteckt hatte, wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Baronet zu.
»Dr. Morley leistet uns heute abend keine Gesellschaft, Sir Charles?«
»Heute abend nicht, Mrs. Hudson. Er ließ uns ausrichten, daß er bedauerlicherweise ein wenig unter dem Wetter leidet.«
»Vielleicht sollte er einen Arzt aufsuchen!« meinte der alte Colonel mit schallendem Gelächter.
Es folgte ein peinlich berührtes, höfliches gedämpftes Lachen am Tisch.
»Noch Wein, Margaret?«
»Ja, ein wenig, Henry.«
Hogarth, der schweigsam hinter dem Stuhl von Sir Charles gestanden hatte, war augenblicklich neben ihr.
»Die Damen?« Ein fragender Blick des jüngeren St. Clair.
»Für mich nicht mehr, Squire«, sagte Vi.
»Für mich auch nicht«, erwiderte ich, woraufhin ich dem Fuß meiner Kameradin einen verschwörerischen Tritt verpaßte und hoffte, sie würde nicht widersprechen, als ich mich erhebend verkündete: »Wirklich, ein herrliches Mahl, Lady Margaret. Wenn Sie uns nun entschuldigen möchten?«
Während wir uns vom Tisch verabschiedeten, erlangte ich Hogarths Aufmerksamkeit mit einer Kopfbewegung in Richtung Tür. Er verstand mein Anliegen und antwortete gleichermaßen mit einem leichten und heimlichen Kopfnicken seinerseits.
Als wir draußen waren, wandte ich mich Vi zu. »Wenn sie sich ins Musikzimmer zurückziehen, wie verbringen sie dann ihre Zeit?« fragte ich.
»Nun, Sir Charles spielt vielleicht ein wenig Klavier. Lady Margaret macht ein wenig Handarbeit. Der Squire und der Colonel lesen vielleicht eine Zeitlang, bevor sie sich zum Kartenspielen davonmachen.«
»Und wie lange bleiben sie ungefähr in dem Zimmer?«
»Höchstens eine Stunde, würde ich sagen. Warum fragst du?«
»Ich möchte, daß du ins Musikzimmer gehst und dort auf sie wartest«, teilte ich ihr mit und ignorierte ihre Frage. »Leiste ihnen Gesellschaft, bis ich komme.«
»Das wird ihnen mit Sicherheit gefallen. Und wo gehst du hin?«
»Zu Dr. Morley«, antwortete ich. »Ich möchte herausfinden, wie sehr er wirklich unter dem Wetter leidet. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er vom Dinner fernbleibt.«
Sie trat mit einem fragenden Blick einen Schritt zurück.
»Ach, komm schon, du hast doch etwas vor. Was soll das alles?«
Bevor ich Zeit hatte zu antworten, schloß Hogarth, nachdem er sich aus dem Speisezimmer verabschiedet hatte, die Tür hinter sich und kam näher. »Sie wollten mich sprechen, Mrs. Hudson?« flüsterte er in einem überaus vertraulichen Tonfall.
Am Glanz in seinen Augen konnte ich erkennen, daß er recht ergriffen davon war, Teil eines geheimen Triumvirats zu sein.
»Ja, Hogarth, das wollte ich«, antwortete ich und zog ihn näher heran. »Inspektor Thackeray wird in der nächsten Stunde am Hintereingang eintreffen. Es ist wichtig, daß niemand von seiner Ankunft erfährt, außer Mary.«
»Ich verstehe vollkommen, Madam«, erwiderte er, wobei er versuchte, seine Aufregung zu verbergen. »Gibt es etwas Bestimmtes, was ich tun soll?«
»Geben Sie ihm nur jede mögliche Unterstützung«, antwortete ich. »Wenn alles wie geplant verläuft, werden wir das düstere Geheimnis noch heute abend lüften. Wenn nicht, so fürchte ich, werde ich mich vollkommen zur Närrin machen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Hudson, alles wird gut verlaufen«, lautete die beruhigende und entschiedene Antwort des ehrwürdigen Herrn. »Aber ich muß zurück.
Sie werden sich fragen, wo ich bin, Sie verstehen. Viel Glück«, flüsterte er und schloß die Tür hinter sich.
»Vielleicht erzählst du mir nun endlich mal, was genau hier vor sich geht!« rief eine frustrierte Violet und stampfte verärgert auf den Boden.
»Es tut mir leid, Violet, wir haben einfach nicht die Zeit dafür«, antwortete ich und warf einen argwöhnischen Blick zur Tür des Speisezimmers. »Sie könnten jede Minute herauskommen. Bitte, tu einfach, um was ich dich gebeten habe.«
»Nun gut«, lautete die verschlossene Antwort. »Aber wenn ich Dr. Watson wäre.« Sie murmelte weiter vor sich hin, während sie auf den Hacken kehrtmachte und auf dem Flur davonstürzte.
Während ich insgeheim Mitgefühl für meine alte Freundin verspürte, so hatte es doch seit meiner Rückkehr nur sehr wenig Gelegenheit gegeben, sie mit den Antworten auf die vielen Fragen vertraut zu machen, die bisher ein Rätsel geblieben waren.
Daisys quälend schleppende Gangart hatte sich im nachhinein als Segen herausgestellt, da sie mir genügend Zeit verschaffte, im Geiste langsam, aber sicher alle losen Enden der Geschichte ordentlich zusammenzufügen. Während ich bereitwillig zugebe, daß es bei dem Fall noch gewisse Aspekte gab, die ich der Vermutung überlassen mußte, blieb ich gänzlich überzeugt, daß ich nun das Warum, Wie und Wer in der Hand hatte.