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Sir Charles, der langsam ebenso die Nerven zu verlieren schien wie die anderen, verließ das Klavier und kam zu uns ans Fenster. Der Gesang ertönte weiterhin mit einer quälend klaren Stimme, während die schattenhafte Gestalt einer jungen Frau heranschwebte und uns einen erschreckenden Blick auf ihr blutverschmiertes Gesicht ermöglichte.

Lady Margaret fiel prompt in Ohnmacht.

Sowohl der Colonel als auch Sir Charles erstarrten auf der Stelle wie die Wachsfiguren von Madame Tussaud. Vi stolperte zurück und hielt sich am Klavier fest. Der Squire, dessen Gesicht vor Grauen und Un-glaube verzerrt war, warf sein schweres Kristallglas mit solch einer Gewalt gegen das Fenster, daß durch die Wucht Tausende von Fensterscherben nach draußen flogen.

»Es ist Nora! Es ist Nora!« schrie er immer wieder.

»Wie könnte es Nora sein?« fragte ich ihn. »Sie haben sie doch getötet!«

»Ja, aber Sie haben sie gesehen - wir alle haben sie gesehen!« ent-gegnete er heftig, bevor er sich über die Tragweite seines Eingeständnisses klar wurde.

Er ging zum Barschrank, wo seine zittrigen Hände mit mäßigem Erfolg versuchten, ein Whiskyglas zu füllen.

Ich drehte mich zu seinem Bruder um. »Sir Charles«, befahl ich ihm, »bitte kümmern Sie sich um Ihre Frau, sie ist ohnmächtig!«

Selbst noch in einem etwas benommenem Zustand hob der Baronet mit Hilfe des Colonels die Lady auf das Sofa.

»Emma Hudson, was ist hier eigentlich los?« schrie Vi, die offensichtlich nach allem, was sie gesehen hatte, recht aufgebracht war. »Zuerst singt da draußen ein verflixter Geist hübsche Lieder, dann gesteht der Squire den Mord. Ich dachte, wir wären hinter.« Sie richtete ihren Blick auf Sir Charles, hielt sich dann aber doch im Zaum.

»Ich denke, Henry muß hier etwas erklären«, antwortete der Baronet, während er sich über seine Frau beugte und versuchte, sie mit sanften Schlägen auf die Wange wieder zum Leben zu erwecken.

Die Augen von Lady Margaret öffneten sich langsam. »Was ist, Charles?« fragte sie. »Was ist geschehen?«

»Es scheint, mein Liebling, als habe Bruder Henry gerade allen Anwesenden gestanden, die junge Frau umgebracht zu haben, die man draußen gefunden hat.«

»Ach was!« fuhr ihn der jüngere Mann an und schüttete seinen Drink zurück. »Wer will mich den an den Galgen bringen? Du etwa, Charles? Du, Margaret? Wie sieht’s mit Ihnen aus, Colonel?«

»Was? Was? Also wirklich, alter Junge, das ist doch.« »Nein«, antwortete der Squire überheblich, »das kann ich mir kaum vorstellen! Und«, fügte er hinzu, wobei er sich Vi und mir zuwandte, »wer wird denn schon zwei närrischen alten Frauen glauben? Die Auferstehung Noras von den Toten wird die Absurdität der Behauptung nur verstärken. Aber machen Sie nur, Mrs. Hudson«, fuhr er mit einer gewissen Arroganz in der Stimme fort, »rennen Sie zu Ihrem Inspektor. Ich kann mir seine Reaktion auf Ihre Geschichte nur allzugut vorstellen.«

»Können Sie das tatsächlich, Sir?«

Alle Augen wandten sich Thackeray zu, der ohne Melone in das Zimmer schlenderte.

»Sie haben alles gehört, Inspektor?«

»In der Tat, Mrs. Hudson. Es tut mir leid, Squire, aber ich muß Sie offiziell des Mordes an Nora Adams anklagen.«

»Nora St. Clair, Inspektor«, korrigierte ich ihn.

Auf das verblüffte Schweigen folgten Laute des Erstaunens.

»St. Clair? Wie meinen Sie das?« fragte Thackeray.

Ich wandte mich an den Squire von Haddley. »Soll ich es ihnen erzählen, oder wollen Sie es tun?«

»Sie scheinen ja alle Antworten zu kennen«, erwiderte er bitter und sank in einen Sessel.

»Nun, ich möchte gerne wissen, woher du wußtest, daß es der Squire war«, schmollte Violet. »Und was soll das Ganze mit dieser Nora St. Clair, hä?«

»Zur Beantwortung deiner ersten Frage, Vi«, antwortete ich, »du erinnerst dich doch daran, daß du mir erzähltest, du hättest erfahren, daß der Baronet und seine Frau, ebenso wie der Squire, unerwartet auf das Gut zurückgekehrt seien?«

»Ja.«

»Sowohl Sir Charles als auch Lady Margaret wurden von Hogarth und den Bediensteten bei ihrer Ankunft gesehen. Nur die Rückkehr des Squires blieb bis zum nächsten Morgen unbemerkt. Er war der einzige, der Nora nach Haddley gebracht haben konnte, ohne daß es jemand bemerkte.«

»Warum? Zu welchem Zweck?« fragte Sir Charles.

»In der Tat, warum? Das war eine Frage, die ich mir auch immer wieder stellte. Die Idee, ein einfaches Mädchen von der Londoner Bühne für so etwas wie ein Tête-à-Tête hierher zu bringen, wäre verrückt gewesen. Obwohl er davon ausging, Sir Charles, daß sowohl Sie als auch Ihre Ladyschaft fort wären, so war doch Ihre Mutter noch immer hier und zu dem Zeitpunkt recht lebendig. Nein, es mußte die Idee des Mädchens gewesen sein. Lady Margaret«, fragte ich, »was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, daß Ihre Nichte eine Unterhaltungskünstlerin im Variete, ledig und guter Hoffnung war?«

»Gütiger Gott!«

»Ja.« Ich lächelte. »Genau das wäre auch die Antwort Ihrer Ladyschaft gewesen.«

»Dann muß es Erpressung gewesen sein!« rief Violet.

»Genau«, antwortete ich. »Was mich zu meiner ursprünglichen Annahme zurückbrachte, daß das tote Mädchen nur seine Tochter gewesen sein konnte. Zweifellos schickte sie dem Squire einen Brief, in dem sie ihm mitteilte, ihn sehen zu wollen. Als er nach London kam, verlangte sie Geld, um das, was aus ihr geworden war, nicht bekannt werden zu lassen. Liege ich soweit richtig, Squire?«

Sein Schweigen deutete ich als Bestätigung.

»Aber«, mischte sich sein Bruder ein, »Henry hat überhaupt kein Vermögen. Wie könnte er. ?«

»Wenn Sie erlauben, möchte ich eine Vermutung anstellen: Ich glaube, er hoffte, das Geld von Ihrer Ladyschaft zu bekommen, indem er sich irgendeine Geschichte ausdachte, der zufolge er seine Spielschulden zurückzahlen mußte. Mit Sicherheit wollte er den wahren Grund nicht offenbaren. Die Tatsache, daß Nora ihn bereitwillig hierher begleitete - denn ich kann mir nicht vorstellen, daß er sie gewaltsam nach Haddley zerrte - deutet für mich darauf hin, daß die Tochter nur allzu gut wußte, daß sie wenig Hoffnung darauf haben durfte, ihr Vater würde ihr das Geld per Post zuschicken.« »Sie wollen also sagen, daß sie mit Henry zurückkam, um ihr Geld zu erhalten, anstatt in London auf das Versprochene zu warten«, sagte Lady Margaret in fragendem Tonfall. »Aber das ist unmöglich!« verkündete sie plötzlich und recht nachdrücklich. »Wir haben hier kein Mädchen gesehen.«

»Ein behelfsmäßig eingerichtetes Zimmer im oberen Stockwerk, Mylady«, antwortete der Inspektor. »Dort wohnte sie.«

»Ich verstehe«, antwortete sie leise, wobei ihre Worte mit einem mitleidsvollen Schütteln dieses aristokratischen Kopfes einhergingen. »Und deine Frau, Henry, was ist aus ihr geworden?« fragte sie.

»Starb vor fünf Jahren in Australien«, entgegnete der Squire barsch.

»Ich sage Ihnen«, verkündete der Colonel allen Anwesenden, »diese ganze Geschichte um eine Tochter, die ihren eigenen Vater erpreßt, wäre zu meiner Zeit nie vorgekommen!«

»Aber bedenken Sie, Colonel Wyndgate«, erinnerte ich ihn, »sie und ihre Mutter waren vom Vater verlassen worden und mußten sich im Ausland ihr eigenes Leben aufbauen. Die Bühne war sicher eine der wenigen Möglichkeiten, die ihr offenstanden, nachdem ihre Mutter gestorben war. Ohne Zweifel hat das Wissen, daß sie ein Kind erwartete, sie dazu veranlaßt, nach England zurückzukehren, damit das Kind finanziell abgesichert ist - auf die einzige Weise, die ihr blieb: durch Erpressung.«

»Nun, ich bezweifle doch sehr«, lautete Sir Charles’ Kommentar an seinen Bruder gerichtet, »daß es dir gelang, von Mutter Geld zu bekommen, alter Junge, aus welchem Grund auch immer.«

»Keinen Heller!« lautete die verbitterte Antwort.

»Nicht einmal nach dem - wie ich es mir vorstelle - leidenschaftlichen Appell Noras, als sie Ihrer Mutter einen Besuch in dem Schlafzimmer abstattete«, fügte ich hinzu.