Ich rühme mich damit, die Beherrschung zweier Fremdsprachen erlangt zu haben, ebenso die Kenntnis historischer Daten, das Verständnis verschiedener Bereiche der Medizin und das Vermögen, die Künste zu schätzen. In meiner Freizeit gehe ich auch der Malerei nach, meine Versuche, Öl auf die Leinwand zu bringen, verschafften mir -wie laienhaft das Ergebnis auch sein mochte - viele angenehme Nachmittage. Es wäre allerdings unrecht, wenn ich nicht mit aller Offenheit eingestehen würde, daß all mein Wissen, welches ich mir in den Jahren nach dem Ableben meines Mannes angeeignet hatte, Mr. Holmes zu verdanken war.
Wenn er nach der Aufklärung eines besonders schwierigen Falles nicht so recht wußte, was er mit sich anfangen sollte, fühlte er sich berufen, einen Nachmittag an meinem Küchentisch zu verbringen und sich Kekse und Tee zu gönnen.
Einmal, nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte, lehnte sich dieser große Mann mit seinem hageren Körper über den Tisch und ermahnte mich mit erhobenem Zeigefinger und einem strengen, sachlichen Tonfalclass="underline" Wenn ich mein Verständnis der Welt als Ganzes erweitern wolle, ». dann, so glaube ich, Mrs. Hudson, lautet mein bester Ratschlag für Sie - wenn ich Shakespeare heranziehen darf -, begebt Euch in eine Bibliothek.«
Dies war ein vernünftiger Ratschlag, den ich eifrig befolgen sollte. Leider führte dies mehrere Male zu Unannehmlichkeiten. Mitunter war ich mir der späten Stunde nicht bewußt, wenn ich mich von der Bibliothek, Kunstgalerie oder dem Museum auf den Weg nach Hause machte, so daß ich bei meiner Heimkehr Dr. Watson antraf, der im Flur auf und ab ging und etwas Dahingehendes in sich hinein murmelte, nicht zur rechten Stunde sein Abendessen serviert bekommen zu haben. Dennoch war dies eine lohnende Ausbildung, und selbst wenn die angeeigneten Kenntnisse zu nichts nutze gewesen wären, so genügte mir doch die Tatsache selbst, daß ich wußte, was ich wußte.
Auf alle Fälle fand ich Haddley Hall sehr beeindruckend. So sehr, daß ich am Fuße der Treppe, die zum Eingang führte, zögerte und einen verstohlenen Blick auf die obligatorischen Steinlöwen auf beiden Seiten warf, die mich - wie ich fand - ihrerseits recht mißtrauisch anblickten.
Als ich oben angelangt war, stand ich dort mit einem schief sitzenden Hut, von Staub bedeckt, und sah in jeder Hinsicht sicherlich so aus wie ein lang verloren geglaubtes und verwahrlostes Waisenkind oder, im günstigsten Fall, wie eine arme Verwandte zu Besuch.
Nun komm schon, altes Mädchen, sagte ich mir, als nächstes siehst du noch das Gesicht Marleys in dem starr blickenden Türklopfer aus Messing.
Bei diesem eher drolligen Gedanken erlaubte ich mir ein kleines Lächeln, langte nach »Marley« und ließ das Messing ertönen - zuerst etwas schüchtern, dann aber, als die Tat begangen und keine Reaktion zu vernehmen war, klopfte ich noch einige Male recht kräftig und wartete. Die Tür öffnete sich, und hinter der erhabenen hölzernen Konstruktion schaute das Gesicht eines älteren und sehr vornehmen Butlers mit weißen Handschuhen hervor.
»Ja?«
»Ich möchte zu Mrs. Violet Warner«, sagte ich mit einem, wie ich hoffte, energischen Tonfall.
Schweigen.
»Ich verstehe.. .ja. Treten Sie bitte ein.«
Er trat zurück und öffnete die Tür etwas weiter, während ich eintrat.
»Erlauben Sie, Madam?« Seine Augen huschten zwischen Mantel und Hut hin und her.
»Oh ja, gewiß«, antwortete ich und fühlte mich ein wenig entspannter, nachdem Kleidung und Koffer in einem kleinen Nebenschrank verstaut waren.
»Wenn Sie die Güte hätten, hier zu warten, Madam. Ich werde Mrs. Warner von Ihrer Gegenwart in Kenntnis setzen.«
Ich blickte ihm nach, als er lautlos den glänzenden Parkettfußboden überquerte, und obwohl sein Gang sicher und präzise war, so konnte ich doch eine gewisse Schwermut darin erkennen. Die Schultern hingen nicht aufgrund des fortgeschrittenen Alters herab, dachte ich mir, sondern aufgrund einer anscheinend übermächtigen Depression. Als er eine direkt an der Eingangshalle liegende Schiebetür erreicht hatte, hielt er inne, bevor er sie öffnete.
»Verzeihen Sie«, sagte er mit einem entschuldigendem Lächeln. »Wie war der Name doch gleich?«
Ich richtete mich zu meiner gesamten Größe von fünf Fuß auf. »Hudson«, sagte ich. »Mrs. Emma Hudson.«
Der alte Herr nickte bestätigend, bevor er leise hinter der Tür verschwand.
Hm, dachte ich, die Warners haben vom Hafengelände Londons bis zu einem solchen palastähnlichen Landsitz einen langen Weg zurückgelegt - nicht nur in Meilen. Falls meine Reise jedoch nur durch irgendeinen verlorenen Gegenstand begründet sein sollte, wäre ich überaus verärgert, auch wenn sich daraus die Gelegenheit ergab, alte Bekanntschaften aufzufrischen.
Ich wurde von dem Geräusch der Schiebetür aus meinen Gedanken gerissen, als der Butler mit den weißen Handschuhen und den traurigen, aber freundlichen Augen wieder erschien. »Bitte hier entlang, Madam.«
Als ich den Raum betrat, schritt er beiseite, schob die Tür lautlos hinter mir zu und ließ mich zum ersten Mal nach fast zwanzig Jahren allein mit Violet Warner.
3. Mrs. Violet Warner
»Emma! Emma Hudson! Ich hab’ meinen Ohren nicht getraut, als der alte Hogarth sagte, daß mich eine Emma Hudson sprechen will, aber wo steckt denn dein Mr. Holmes, hm?«
»Ich finde es auch nett, dich wiederzusehen, Vi«, antwortete ich in einem scharfen Tonfall.
Ihre Augenbrauen zuckten angesichts meiner Bemerkung nach oben, und auf ihren Wangen erschienen rote Flecken. Sie erhob sich eilig aus ihrem Sessel, und da sie durch ihre unschuldige, aber unsensible Frage vollkommen verunsichert war, hätte sie fast das Teeservice auf dem Wagen vor ihr umgeworfen.
»Oh, entschuldige vielmals, Em. Es ist wirklich schön, dich nach all diesen Jahren wiederzusehen.«
Um ihren Fehler wiedergutzumachen, kam sie mit offenen Armen auf mich zu, und wir umarmten uns.
»Nun, mein Mädchen«, sagte ich und trat einen Schritt zurück, während ich ihre Hände hielt, »ich muß schon sagen, du siehst absolut wunderbar aus.«
Auch wenn sich ihr Gesicht und ihre Figur im Laufe der Jahre beträchtlich gerundet und sich einige Falten in das freche Gesicht geschlichen hatten, so war das Funkeln in den Augen doch erhalten geblieben. Und ich muß zugeben, daß sie in ihrem Taftkleid recht ansehnlich aussah, aber warum sie die Farbe Grün gewählt hatte, werde ich wohl nie erfahren. Sie hatte ihr noch nie gestanden.
»Also, du hast dich aber auch überhaupt nicht verändert«, antwortete sie lächelnd. »Ich hab’ dich noch genau so in Erinnerung. Aber komm, es gibt keine Veranlassung für uns, wie zwei verflixte Statuen mitten im Zimmer herumzustehen. Setz dich, Liebes. Ich hab’ gerade eine Kanne mit frischem Tee hier, und ich weiß, daß du dazu nicht nein sagst - jedenfalls nicht die Emma Hudson, die ich kenne. Nur wenig Zucker und keine Milch, richtig?«
»Ja, das wäre herrlich.« Ich lächelte, überrascht und berührt, daß sie sich nach all den Jahren daran erinnerte. »Besonders, nachdem ich fast den ganzen Tag Staub geschluckt habe. Aber was unser Erscheinungsbild betrifft«, fuhr ich fort, während ich ihr und dem Teewagen gegenüber Platz nahm, »wenn sich wirklich keine von uns in den letzten zwanzig Jahren verändert hat, kämen wir eigentlich für einen Artikel im Lancet in Frage.«
»Genau«, kicherte sie und schenkte mir Tee in eine äußerst feine Porzellantasse ein, »wir haben im Laufe der Jahre vielleicht hier und da etwas zugenommen und wohl einige Falten bekommen, aber ich sag’ ja immer, wenn man noch gesund ist, dann ist der Rest doch nicht das Palaver wert.«