Der Squire warf mir einen überaus überraschten Blick zu. »Woher wissen Sie das?«
»Nun, Em fand den Ohrring des Mädchens im Zimmer Ihrer Lady-schaft.« Vi strahlte vor Stolz. »Ist es nicht so, Liebes?« »Vi, bitte. Was sagten Sie doch gerade, Squire?«
»Ich ging nach oben zu Nora, nachdem ich von meiner Mutter abgewiesen worden war, und sagte ihr, sie müsse einfach noch Geduld haben. Ich würde ihr alles mir Mögliche zukommen lassen, sobald ich es hatte. Später in der Nacht erzählte sie mir, sie sei in das Zimmer Ihrer Ladyschaft eingedrungen, hätte die ganze Geschichte erzählt und Geld gefordert, damit sie schwieg. Das Ergebnis von all dem war, daß ich nun ganz aus dem Testament gestrichen werden sollte. Ob Mutter das gemacht hätte oder nicht, weiß ich nicht - aber das Risiko konnte ich nicht eingehen.«
»Und dann haben Sie Dr. Morley in diese leidige Angelegenheit hineingezogen«, unterbrach ich ihn, »mit dem Angebot, ihn zu bezahlen, wenn er Ihre Ladyschaft beseitigen würde.«
»Doch nicht Dr. Morley!« stieß meine alte Freundin aus.
»Es tut mir leid, Vi, aber es ist wahr. Der Doktor selbst hat es mir gegenüber ausgesagt.«
»Aber warum sollte der Squire Nora töten?« fragte sie. »Ich meine, wo doch Ihre Ladyschaft tot war, bevor sie das Testament ändern konnte und so.«
»Ich kann nur annehmen«, behauptete ich, »daß der Preis beträchtlich anstieg, nachdem die Tochter von dem Tod erfuhr.«
»Ihre Gier hat Nora umgebracht!« stieß der Squire plötzlich aus.
»Nein, Squire«, erwiderte ich. »Sie haben sie umgebracht! Sie wollte mehr Geld. Es gab Streit. Sie schlugen ihr mit dem erstbesten Gegenstand, der Ihnen in die Hände fiel, auf den Kopf - eine kleine Marmorstatue.«
»Ich sollte vielleicht erwähnen«, ergänzte der Inspektor, »daß sich eben diese Statue, von der Mrs. Hudson spricht, nun in den Händen des Coroners befindet, um untersucht zu werden.«
»Und nachdem Sie sie getötet haben«, drängte ich weiter, »zogen Sie ihr den Mantel an und zerrten die Leiche nach draußen - in dem Glauben, daß man sie für ein Mädchen aus Twillings halten würde, wenn man sie findet. Als Sie die Stimmen von Will und Mary in dem Garten hörten, ließen Sie Ihr Opfer dort liegen und flohen eilig zurück ins Haus.«
Ich erhielt keine Antwort, zumal es ohnehin keiner bedurfte.
Ich zog den Inspektor beiseite und informierte ihn über den Selbstmord von Dr. Morley. Ich hielt es im Moment für das beste, seinen Tod vertraulich zu behandeln. Da sich Vi die Rolle des Doktors in dem Mord an Lady St. Clair zu Herzen genommen hatte, wünschte ich nicht, sie mit dieser zusätzlichen Offenbarung noch mehr aufzuregen.
»Also, Madam«, sagte der Colonel, während er seine massige Gestalt zu mir herüberschleppte, »wer zum Teufel sind Sie eigentlich? Irgend so eine Detektivin?«
»Mrs. Hudson«, antwortete der Inspektor an meiner Stelle, »ist eine Mitarbeiterin des berühmten Sherlock Holmes, Colonel Wyndgate.«
Der alte Soldat war einen Augenblick sprachlos. »Sherlock Holmes! Du liebe Güte.« Er schnappte nach Luft. »Inspektor! Sollten Sie die Frau nicht hinter Schloß und Riegel stecken?«
»Wovon um alles in der Welt reden Sie?« fragte ein von Grund auf verwirrter Thackeray.
»Ich meine«, stotterte er, »dieser, dieser Sherlock Holmes - ist das nicht der Kerl, der vor ein paar Jahren all diese armen Frauen ermordet hat?«
»Colonel Wyndgate!« Ich brach in schallendes Gelächter aus. »Ich glaube, Sie verwechseln Mr. Holmes mit Jack the Ripper!«
»Was? Wie? Ja, nun, Sherlock, Ripper, die beiden krieg’ ich immer durcheinander.«
Der Fauxpas des Colonels hob zumindest ein wenig die Stimmung, bis Lady Margaret langsam zu dem eingeworfenen Fenster ging und wehleidig die Frage in den Raum stellte: »Werden wir nun den Rest unseres Lebens von dem Geist von Nora St. Clair verfolgt?«
»Ich glaube, in dem Punkt brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Mylady«, antwortete ich. »Inspektor Thackeray?«
»Du kannst jetzt hereinkommen«, rief er und wandte sich der Tür zu.
Mary O’Connell trat ein.
Noch immer mit Noras Mantel bekleidet und mit über die Schultern hängendem Haar kam Mary nervös herein und wischte sich das »Blut« aus dem Gesicht.
»Aber das ist ja unsere Mary!« rief Vi aus.
»Guter Gott!« stieß Lady Margaret hervor. »Eine der Bediensteten!«
»Erklären Sie uns das, Sir!« verlangte Sir Charles vom Inspektor.
»Es scheint, alter Junge«, verkündete der Squire im Namen des Inspektors, »als wäre unser Geist nichts anderes als ein billiger, theatralischer Trick gewesen. Dennoch«, fügte er mit einer spöttischen Verbeugung hinzu, »mein Kompliment, Mrs. Hudson. Sie haben die Produktion inszeniert, nehme ich an?«
Ich antwortete mit einem Lächeln und einem Kopfnicken.
»Aber Mary«, schrie Violet und eilte zu dem Mädchen, »du hast ja überall Blut!«
»Das war nur die Tomatensoße von Cook«, antwortete sie mit einem schelmischen Grinsen.
»Du wurdest doch nicht durch die Scherben verletzt, oder?« fragte ich. »Das war leider etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte.«
»Das hat mich mehr in Angst versetzt als alles andere, Mrs. Hudson.«
»Nun, du hast das aber sehr gut gemacht, Mary«, sagte Thackeray lächelnd. »Du gehst jetzt wohl besser und säuberst dich.«
»Und Mary«, fügte ich hinzu, »mach dir über einen möglichen Verlust deiner Anstellung keine Sorgen. Mr. Holmes hat viele einflußreiche Freunde. Ich bin sicher, da kann man etwas für dich und Will arrangieren.«
Sie ergriff meine beiden Hände und wollte etwas sagen. Als befürchtete sie jedoch, zu emotional zu werden, eilte sie dann aber aus dem Zimmer.
Am Vormittag des nächsten Tages waren Mrs. Warner und ich im Zug auf dem Weg zurück nach London.
»Also, du kannst wirklich stolz auf dich sein, Emma Hudson«, meinte meine Kameradin lächelnd, als wir einander gegenüber unsere Plätze einnahmen.
»Du solltest deinen eigenen Beitrag nicht übereilt mindern«, erwiderte ich lächelnd.
»Ja«, sprudelte sie mit mädchenhafter Begeisterung hervor, »wir zwei geben schon ein tolles Paar ab, oder? Ich kann’s kaum abwarten, deinem Mr. Holmes alles zu erzählen.«
»Oh.«
»Wieso, was ist los, Liebes?«
»Es ist nur, nun, wenn ich du wäre, würde ich Mr. Holmes oder auch Dr. Watson nichts von deiner Fähigkeit zu.«
»Abzuheben?«
»Ja«, kicherte ich, »abzuheben. Eigentlich«, fügte ich hinzu, »ist es wohl am besten, wenn wir diesen gesamten Aspekt für uns behalten.«
»Was sie nicht wissen, kann sie nicht stören, ist es das?«
»So ungefähr.«
Stahlräder klickten durch eine unendliche ländliche Gegend, in der ein leicht gepuderter Schnee sein Bestes tat, um die nackten Novemberfelder zu bedecken. An einem Bahnübergang wedelte ein kleiner Junge fröhlich winkend mit den Armen, als wir vorbeirauschten. Hinter dem verdreckten Fenster erwiderte ich das Winken mit einem Lächeln.
»Was hast du eigentlich für Pläne, wenn wir nach London zurückkommen?«
»Wie?«
»Entschuldigung, Liebes. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Nein, das ist schon in Ordnung«, antwortete ich. »Hab’ nur vor mich hin geträumt. Was ich für Pläne habe?« nahm ich dann ihre Frage wieder auf. »Wie meinst du das?«
»Nun, ich dachte, vielleicht könnten wir uns selbständig machen, im Detektivgeschäft. «
»Möchtest du, daß ich Mr. Holmes und Dr. Watson kündige?« erwiderte ich heiter.
»Nein, das nicht«, antwortete sie recht ernsthaft. »Wir könnten es aber doch zeitweise wirklich machen. Ich bezweifle, daß wir sehr viel zu tun hätten. Vielleicht die merkwürdigen Fälle, für die dein Mr. Holmes keine Zeit hat.«