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Wie so oft, wenn er im Begriff war, sich um Kopf und Kragen zu reden, spürte Sydow auf einmal diese Hand, welche seine Schulter mit sanftem Druck umklammerte. Leas Hand. Das genügte, um ihn wieder zur Räson zu bringen, wenngleich der Groll, welcher sich in ihm aufgestaut hatte, noch lange nicht überwunden war. »Na schön, bin gleich so weit«, murrte er. »Muss mir nur kurz was überziehen.«

»Geht in Ordnung«, antwortete Krokowski und bedachte Sydows Frau, die laut aufseufzend hinter ihrem Mann hertrottete, mit einem kummervollen Blick. Um kurz darauf, nachdem die beiden außer Hörweite waren, in besorgtem Ton hinzuzufügen: »Sieht so aus, als müsstest du dich warm anziehen, Tom.«

8

Berlin-Tempelhof, Schrottplatz am Tempelhofer

Damm | 15.20 h

Alfred Juskowiak, Spitzname Jumbo, hatte jede Menge Speck auf den Rippen, eine Eselsgeduld und ein ziemlich dickes Fell. Allein schon deswegen ließ es ihn kalt, wenn sein Chef ihm die Hölle heißmachte. Entweder man macht seine Arbeit richtig oder gar nicht, lautete sein eherner Grundsatz, weshalb er sich vom Gebrüll des Schrotthändlers, bei dem er seit nunmehr sieben Jahren in Lohn und Brot stand, auch nicht weiter beeindrucken ließ. Mit dem hellgrünen Opel Rekord, der soeben in der Schrottpresse gelandet war, stimmte etwas nicht. Das hatte er irgendwie im Gefühl.

Und so tat Alfred einfach das, was er im Angesicht des tobenden, mit Verwünschungen und finsteren Drohungen nicht geizenden Cholerikers und Inhabers von Lenuweit und Co. schon des Öfteren getan hatte. Er schaltete auf Durchzug. Angesichts seines Naturells fiel ihm dies nicht weiter schwer, war er doch felsenfest überzeugt, ein untrügliches Gespür dafür zu besitzen, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war. Oder, wichtiger noch, einen Riecher für verloren gegangene Wertsachen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sogar einen Geldbeutel gefunden und seinen Inhalt zum Anlass genommen, mal wieder ordentlich die Puppen tanzen zu lassen. Überhaupt war im Lauf der Jahre einiges zusammengekommen, angefangen bei wertvollem Schmuck bis hin zu verloren gegangenen Papieren oder einer Stange Lucky Strike. Aus diesem Grund, aber auch, um seinem Chef eins auszuwischen, hielt Alfred Juskowiak alias Jumbo die Schrottpresse an, wischte sich die schwieligen Pranken ab und trat an den Rand der Grube, in der das völlig durchgerostete Gefährt gelandet war.

Und prallte augenblicklich zurück.

Der Grund hierfür war, wieder einmal, Alfreds siebter Sinn. Der Stofffetzen, vermutlich Teil eines Jackettärmels, sprach eine deutliche Sprache. Er ragte nur wenige Zentimeter über den Rand des geschlossenen Kofferraums hinaus, immerhin so weit, dass Jumbo es sich im Grunde sparen konnte, den Opel wieder aus der Grube zu hieven und nachzusehen, was sich in seinem Inneren verbarg. Das konnte er sich weiß Gott denken, obwohl er im Stillen hoffte, dass sich seine Befürchtungen nicht bewahrheiten würden.

Knapp fünf Minuten später, bei einem flüchtigen Blick in den Kofferraum, sollten sich Alfreds Hoffnungen auf die Fehlerhaftigkeit seines ansonsten untrüglichen Instinktes jedoch zerschlagen.

Wieder einmal, so schien es, hatte er den richtigen Riecher gehabt. Und das Gefühl, den Toten, der dort lag, schon einmal gesehen zu haben.

9

Bahnhof Berlin-Wannsee | 16.10 h

»Für dich, Sydow – frisch aus dem Gruselkabinett.« Eher beiläufig und mit einem Schuss Ironie drückte Heribert Peters, Chefgerichtsmediziner am Krankenhaus Moabit, seinem langjährigen Freund und Kollegen einen Schnellhefter in die Hand, vollführte eine theatralische Verbeugung und konnte es sich nicht verkneifen, ein affektiertes Lächeln hinterherzuschieben. »Du freust dich doch, oder?«

»Und wie.« Sydow klappte den Schnellhefter auf, betrachtete die darin abgehefteten Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Skizzen und überflog die insgesamt acht Seiten Text. Anschließend hob er den Blick und fragte: »Irrtümer ausgeschlossen?«

Peters, fast genauso alt, jedoch beinahe doppelt so schwer wie sein Freund und ein erklärter Gegner sportlicher Betätigung, verzog das hochrote Gesicht und ließ seiner Grimasse einen verdrießlichen Blick folgen. »Wenn du glaubst, ich lasse mich von dir rumschikanieren«, tönte der Gerichtsmediziner mit Lehrstuhl an der FU Berlin, »hast du dich gewaltig …«

»… geschnitten, ich weiß«, vollendete Sydow und ließ sich herab, ihm einen Platz auf dem Kieshaufen in unmittelbarer Nähe der aus dem Verkehr gezogenen S-Bahn-Waggons anzubieten, die nun schon seit Stunden auf einem Nebengleis des S-Bahnhofes Wannsee standen. Mehr als 100 Meter entfernt, auf dem Bahnsteig, hatte sich eine Gruppe Halbstarker um ein Transistorradio geschart, und Sydow fragte sich nicht zum ersten Mal, was an der Musik von Elvis denn so Besonderes war. Er persönlich stand eher auf Glenn Miller, woran sich vermutlich nichts ändern würde. »Sag mal, welche Laus ist denn dir über die Leber gelaufen?«

»Gar keine. Wieso?«

»Weil du in letzter Zeit immer so schnell auf die Palme gehst – darum.«

Deutlich moderater im Ton, ließ die temperamentvolle, zu cholerischen Ausbrüchen neigende und in Expertenkreisen durchaus geschätzte Koryphäe auf dem Gebiet der forensischen Medizin das zerzauste Haupt hängen und stierte gequält vor sich hin. »Gut beobachtet, Tom.«

»Spuck’s aus, Dicker, wo drückt der Schuh?« Sydow bot seinem Freund eine HB an, und Peters griff derart gierig zu, dass dem edlen Spender beinahe die Schachtel aus der Hand gerutscht wäre. »Jetzt mach schon, Heribert, und lass dir die Würmer nicht einzeln aus der Nase …«

»FdH-Kur23«, gestand der Pathologe und sog das Aroma der HB genüsslich ein. »Täte mir zur Abwechslung mal ganz gut. Meint Evelyn.«

Sydow ließ die Zigarettenschachtel auffällig rasch in seiner Brusttasche verschwinden und bedachte sie mit einem wehmütigen Blick. »Kleine Entziehungskur«, fügte er kleinlaut hinzu. »Täte mir zur Abwechslung mal ganz gut. Meint Lea.«

Peters kugelte sich beinahe vor Lachen. »Na, dann können wir beide ja zusammen gehen!«, rief er aus und verpasste Sydow einen derart heftigen Rippenstoß, dass sein Freund beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. »Doppelt so viel arbeiten und halb so viel futtern – auch eine Logik.«

»Na ja«, bemerkte Sydow und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Obduktionsbericht zu, während die S-Bahn den nächsten Pulk Sommerfrischler ausspie, die es in hellen Scharen an den Wannsee zog. »Immerhin besser, als wenn dir jemand eine Kugel durch die Birne jagt.«

»Besonders, wenn dieser Jemand eine 29er Smith & Wesson benutzt zu haben scheint. Kaliber .44 Magnum, versteht sich.« Peters nahm einen weiteren Zug, hatte jedoch auf einmal genug und drückte seine Fluppe kurzerhand aus. »Bevor du mich wieder fragst, ob ich meiner Sache sicher bin: ja, bin ich. Einschlag des Geschosses knapp zwei Zentimeter oberhalb der Nasenwurzel. Abgefeuert aus geringer Entfernung, nach meinem Dafürhalten um die drei Meter. Sieht ganz danach aus, als sei Mister Schwergewicht … äh … Mister Unbekannt buchstäblich exekutiert worden.«

»Sonst noch was von Bedeutung?«

Peters errötete. »Knapp 120 Kilo Lebendgewicht, männlich, um die 30, vermutlich Amerikaner.«

»Sicher?«

»Jetzt ist es aber wirklich ge…«

»Halt, mein Freund – wer wird denn gleich in die Luft gehen!«, lachte Sydow und blinzelte Peters, den er für sein Leben gern auf die Schippe nahm, mit unverhohlener Schadenfreude an. »Greife lieber zur HB, dann …«

»Geht alles wie von selbst«, brummelte der Gerichtsmediziner, nach außen grantig, in Wahrheit aber längst an Sydows Frotzeleien gewöhnt. »Willst du nun Bescheid über Mister Vollschlank wissen oder nicht?«