»Anschließend hat er ihm ins Bein geschossen.«
»Heißt, er hatte nicht die Absicht, ihn sofort zu töten.«
»Sondern?«, forschte Peters, aus dessen Baritonstimme die gewohnte Skepsis gewichen war.
»Sondern um ihn auszuquetschen«, vollendete Naujocks auf eine Art, die jegliche Einwände von vornherein auszuschließen schien. »Ob mit Erfolg oder nicht, lässt sich natürlich nicht sagen.«
»Fazit: Geht man von der Knarre aus, die sich im Besitz der beiden Streithähne befand, müsste man auf ein gewaltsames Aufeinandertreffen zwischen feindlichen Agenten schließen«, folgerte Sydow, sichtlich beeindruckt von der Kombinationsgabe des deutlich jüngeren Kollegen, trotz alledem jedoch nicht rundum zufrieden. »Woher willst du eigentlich wissen, dass sie einander gegenübergesessen sind, Waldi?«
»Ganz einfach. Das Opfer hat ein Andenken hinterlassen.«
»Tatsächlich?
»Haare, Tom«, triumphierte Naujocks, das für ihn typische Lausbubenlächeln im Gesicht. »Jede Menge blonde Haare. Durchaus naheliegend, dass sie ihm ausgegangen sind.«
»Beziehungsweise weiter ausgehen werden«, warf Peters, der ungekrönte König des schwarzen Humors, ohne eine Miene zu verziehen ein. »Traurig, aber wahr.«
Sydow, kein Kostverächter, wenn es um derbe Späße ging, gab ein missbilligendes Räuspern von sich und wandte sich seinem Freund und Kollegen zu. »Wie lange ist er eigentlich schon tot, Leichenfledderer?«
»Endlich mal jemand, der sich einer gepflegten Ausdrucksweise bedient«, setzte sich der Gerichtsmediziner gekonnt zur Wehr. »Und der meine Dienste zu schätzen weiß.«
»Wie lange er tot ist, will ich wis …«
»Steht alles in meinem Bericht.«
Sydow tat so, als habe er die bissige Antwort nicht gehört, warf einen Blick in die Kladde und murmelte: »Neun bis zwölf Stunden, aha. Nicht auszuschließen, dass der Mörder längst über alle Berge ist.« Und dann, für die Anwesenden kaum zu verstehen: »Wisst ihr, was mir dabei Spanisch vorkommt, Jungs?«
»Keine Ahnung«, beeilte sich Peters zu antworten, dessen Magen laut und vernehmlich zu rebellieren begann.
»Mal ehrlich. Glaubt ihr wirklich, ein Russe und ein Ami treffen sich zu einem Plauderstündchen in der S-Bahn, machen es sich bequem und haben anschließend nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen?« Sydow ließ den Blick zwischen Naujocks und Peters hin und her pendeln, wandte sich ab und trat ans Fenster, um ein wenig mehr Luft in das stickige, nach Staub, Schweiß und geronnenem Blut riechende Abteil zu lassen. »Nee, Männer, ganz so einfach, glaube ich, ist die Chose leider …«
Doch er kam nicht dazu, seine Absicht in die Tat umzusetzen. »Tut mir leid, dass ich störe, Tom«, wurde er von einer ihm wohlbekannten Stimme unterbrochen, »aber der Lokführer wartet nun schon seit einer Stunde darauf, von dir befragt zu werden.«
»Na, dann woll’n wir mal, Kroko«, willigte Sydow, des Herumrätselns müde, umgehend ein, nickte seinen beiden Gesprächspartnern zu und hatte es plötzlich eilig, sich vom Tatort zu entfernen. »Bis später, Jungs.«
»Bis später, Herr Großinquisitor«, rief ihm Peters hinterher. »Und vergiss mir die Daumenschrauben nicht!«
»Apropos Vernehmung, Tom – es gibt Neuigkeiten.«
In Gedanken bei dem bevorstehenden Gespräch, hatte Sydow nicht bemerkt, dass Krokowski auf halber Strecke haltgemacht, die Stimme gesenkt und sich vorsichtshalber umgesehen hatte. Hier drunten in der Unterführung roch es noch penetranter als im Zug, und auf einmal verspürte Sydow das Verlangen, einfach alles stehen und liegen zu lassen und sich wieder an den Wannsee zu verkrümeln. Wenn schon nicht der Herr Kriminalrat, so würde sich wenigstens Lea darüber freuen, und das war ja wohl das Wichtigste. Da er sich und sein preußisches Pflichtbewusstsein aber nur zu gut kannte und diesbezüglich nicht aus seiner Haut konnte, blieb er einfach stehen und hörte Krokowski, der ihn mit den neuesten Hiobsbotschaften versorgte, mit wachsendem Unbehagen zu.
»Um die 50, soso. Ermordet. Endstation Schrottpresse. Und ausgerechnet wir sollen den Fall übernehmen!«, rutschte es ihm am Ende von Krokowskis Monolog heraus. »Dieser Jungspund hat doch wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
»Bekloppt oder nicht, Tom – uns bleibt ja wohl nichts anderes übrig, oder?«
Kaum war die Stimme seines Assistenten in der weiß gekachelten, nach Urin, verschüttetem Bier und Hundekot riechenden Unterführung verhallt, wurde Tom Sydow klar, dass er den Abend mit Lea, auf den er sich wie ein kleines Kind gefreut hatte, endgültig abschreiben konnte.
Und die Nacht vermutlich auch.
10
111 Irving Avenue, Hyannis Port, Maine / USA
| 11.35 h Ortszeit, 17.35 h Berliner Zeit
Wie immer, wenn er das Wochenende in Hyannis Port verbrachte, war der Präsident spät aufgestanden. Heute, am Samstagmorgen, sogar noch etwas später als sonst. Kein Wunder, ging es ihm doch so schlecht wie seit Wochen nicht mehr. Gestern Nachmittag, während des Fluges in sein Urlaubsdomizil, war er von furchtbaren Unterleibsschmerzen geplagt und sie trotz der Narkotika, die man ihm daraufhin verabreicht hatte, nicht mehr losgeworden. Auf Anraten seiner Ärzte, die seinen Zustand mit Besorgnis sahen, hatte er sich daraufhin vorgenommen, richtig auszuspannen, ohne Rücksicht auf Verluste und nach Möglichkeit den ganzen Tag. Egal wie besorgniserregend die Nachrichten, speziell diejenigen aus Berlin, auch klingen mochten. Er würde jetzt in aller Ruhe frühstücken, dabei Zeitung lesen und das CIA-Memo auf dem Wohnzimmertisch einstweilen ignorieren.
Und damit Schluss.
Der Blick von der Terrasse des weiß getünchten, im Kolonialstil erbauten und unweit der protzigen Villa seines Vaters gelegenen Ferienhauses war atemberaubend wie immer, speziell an einem Tag wie heute. Kein Wölkchen trübte seinen Blick, auf dem Nantucket-Sund kreuzten die Segelboote und das Meer war ruhig und spiegelglatt. Von irgendwoher aus der Nähe erscholl das Lachen seiner Tochter Caroline, der es hier draußen nie langweilig zu werden schien. Und sein ganzer Stolz, Kennedy Junior, spielte mit seiner Nanny.
Kennedy setzte sich an den opulent gedeckten Tisch, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und ließ sich von seiner Haushälterin, die ihn wie immer emsig umsorgte, Toast mit Rühreiern, Schinken und Speck und zum Abschluss ein Glas gekühlten Orangensaft servieren. Fast augenblicklich hellte sich sein bis dahin gequälter Gesichtsausdruck auf, und das berühmte Kennedy-Lächeln flog über sein Gesicht. So und nicht anders stellte er sich den Beginn des Wochenendes vor, von dem er hoffte, dass es ein möglichst geruhsames werden würde.
Dass seine Hoffnung trog, wollte John F. Kennedy nicht wahrhaben, ebenso wenig wie die Schlagzeilen, auf die seine Augen fielen. Spekuliert wurde in der Politik bekanntlich viel, schließlich lebten diese Zeitungsfritzen davon. Im Hinblick auf die Sorgen, die ihn momentan plagten, hätte es ruhig ein bisschen weniger sein dürfen, weshalb es der Präsident bei einer oberflächlichen Lektüre beließ, die New York Times wieder zusammenfaltete und sich stattdessen noch eine Tasse Kaffee nachschenkte.
Aus dem geruhsamen Samstagmorgen, wie er ihn sich vorgestellt hatte, sollte jedoch nichts werden. Schuld daran war wieder einmal das Telefon, dessen schrilles Läuten ihn aus sämtlichen Träumen riss. Nichts Gutes ahnend, ignorierte er es zunächst nach Kräften, doch als ihn seine Frau an den Apparat rief, beschlich ihn das dumpfe Gefühl, dass aus dem freien Tag, auf den er sich die ganze Woche gefreut hatte, vermutlich nichts werden würde.
Eine Befürchtung, die sich prompt bewahrheiten sollte. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mister President«, meldete sich eine wohlbekannte Stimme, worauf Kennedy tief durchatmete und sich mit verkniffener Miene in den Plüschsessel neben dem Telefon fallen ließ. »Aber es gibt da ein paar Dinge, über die Sie umgehend in Kenntnis gesetzt werden sollten.«