»Lassen Sie mich raten, Luke«, versetzte der Präsident in der trügerischen Hoffnung, Luciano Calabrese von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen zu können, öffnete den Kragen seines Polohemdes aus dem Hause Fred Perry und zupfte lustlos an seinen hellblauen Shorts herum. »Es geht um Berlin.«
»Sie sagen es, Mister President. Es hat Ärger gegeben – wieder mal.«
»So viel, dass Sie nicht bis Montag warten konnten?«
»Ich fürchte schon, Sir«, gab Calabrese, dem Kennedy am liebsten Gift verabreicht hätte, trotzig zurück. »Sonst käme es mir nicht in den Sinn, Sie zu behelligen.«
»Nur zu, Luke. Ich bin ganz Ohr.«
»Es geht um einen vom KGB angeworbenen Berliner, Sir. Ehemaliger DDR-Bürger, um es genau zu sagen.«
»Hört sich nach einem Ian-Fleming-Roman an, wenn Sie mich fragen«, erwiderte Kennedy, der keinerlei Lust verspürte, sich das Wochenende vermasseln zu lassen.
Calabrese entging dies nicht. »Auf die Gefahr, Sie zu langweilen, Sir –«, beharrte er, wobei es ihm nur mit Mühe gelang, seinen Groll zu verbergen. »So harmlos, wie die Angelegenheit auf den ersten Blick aussieht, ist sie nicht. Bedauerlicherweise.«
»Dazu müssten Sie mir erst mal sagen, um was es sich dreht, Luke.«
»Wie gesagt, es geht um einen Buchhalter aus Berlin, geködert durch den KGB. Vermutlich für Kurierdienste.«
»Vermutlich?«
Calabrese tat so, als habe er die Frage des Präsidenten und den gelangweilten Ton, der in ihr mitschwang, nicht bemerkt. »Und um … um eine KGB-Angehörige, die sich an ihn rangepirscht, diesen Volltrottel abgeschleppt und ihn anschließend …«
»Sehe ich das richtig, Luke, Sie haben die beiden auf frischer Tat ertappt?«
»Ganz recht, Sir. Offen gestanden hatten wir die Dame schon länger unter Verdacht. Deshalb haben wir sie auch rund um die Uhr beschatten lassen. So lange, bis sie uns schließlich ins Netz gegangen ist.«
Der Präsident pfiff demonstrativ durch die Zähne. »Kompliment, Luke. Ihr Jungs von der CIA seid wirklich auf Draht«, witzelte er, nach wie vor nicht übermäßig interessiert. »Und was ist an Ihrem Coup so interessant, dass Sie mir an meinem freien Tag auf die Bude rücken und nicht noch zwei Tage warten konnten?«
»Es geht um Berlin, Sir.«
»Das sagten Sie bereits.«
»Aufgrund der Unterlagen, die uns in die Hände gefallen sind, müssen wir davon ausgehen, dass die Russen einen Überraschungsangriff auf die westliche Garnison planen.«
Trotz seines Misstrauens gegenüber der CIA im Allgemeinen und Calabrese sowie Dulles im Besonderen war der Präsident auf einmal hellwach. »Ein Präventivschlag?«, äußerte er überrascht, mit einer Lautstärke, dass seine Frau Jackie einen Blick zur Tür herein warf, auf eine beruhigende Geste ihres Gatten hin jedoch wieder verschwand. »Alles, was recht ist, Luke – aber das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.«
»Bei allem gehörigen Respekt, Mister President – die Dokumente, die uns in die Hände gefallen sind, sprechen eine deutliche Sprache.«
»Was für Dokumente denn, zum Teufel noch mal?«
»Solche, die man braucht, um einen Angriff auf die Garnison der drei Westmächte möglichst effektiv und Erfolg versprechend durchführen zu können«, beharrte Calabrese, ohne sich auch nur eine Sekunde aus dem Konzept bringen zu lassen. »Als da sind: ein Verzeichnis sämtlicher Garnisonsstandorte, Angaben über die jeweilige Mannschaftsstärke, diverse Listen, aus denen man Rückschlüsse auf die Bewaffnung der alliierten Streitkräfte ziehen kann. Und natürlich Karten, Sir – jede Menge Karten.« Um seine Pointe an den Mann bringen zu können, hielt Calabrese mehrere Sekunden inne. Anschließend sagte er: »Damit sich die Russen nicht verlaufen, wenn sie Ernst machen.«
»Diese Agentin, Rick – ich nehme an, Sie sind dabei, Ihr auf den Zahn zu fühlen.«
»Das genau ist das Problem, Sir«, antwortete Calabrese, aus dessen Stimme der Unmut sprach, der ihn angesichts Kennedys Zaudern befiel. »Bedauerlicherweise ist es uns bislang nicht gelungen, der Dame habhaft zu werden.«
»Mit anderen Worten – der Lockvogel ist ausgeflogen.«
»So könnte man es ausdrücken, Sir.«
»Und der vermeintliche Kurier?«
»Selbstmord, Sir. Ein Moment der Unachtsamkeit, und schon war es passiert.« Erneut ließ Calabrese einige Zeit verstreichen, bevor er dem Präsidenten die nächste Lüge auftischte. »Kaum hat er das Verhörprotokoll unterschrieben, reißt er einem unserer Agenten die Pistole aus dem Halfter, drückt sie sich an die Schläfe und …«
»Einfach so?«, fiel ihm Kennedy ins Wort, mehr denn je auf der Hut vor dem Mann, auf dessen Ehrlichkeit er nicht einmal einen Cent gewettet hätte. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Chief Executive – aber ich frage mich allen Ernstes, wie so etwas überhaupt möglich ist.«
»Heißt das, Sie unterstellen mir, ich würde nicht die …«
»Gar nichts heißt das, Signore!«, stauchte Kennedy die graue Eminenz der CIA zusammen. »Außer vielleicht, dass ich Ihnen ans Herz legen möchte, wegen ein paar geheimer Unterlagen keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Karten, Stadtpläne, Angaben über unsere Truppenstärke – so etwas hat doch wohl jeder drittklassige Sowjetagent auf Lager. Die da drüben wären ja ihr Geld nicht wert, wenn sie nichts Derartiges in petto hätten. Alles, was recht ist, Luke – um mich zu überzeugen, müssen Sie schon schwerere Geschütze auffahren. Anders ausgedrückt: Ich gebe Ihnen genau 24 Stunden Zeit, bis morgen Mittag um zwölf. Dann werden Sie mir Bericht über die derzeitige Lage in Berlin erstatten. Persönlich. Sollten Sie bis dahin nichts in der Hand haben, ist die Angelegenheit für mich erledigt. Haben wir uns verstanden, Luke? So, und jetzt möchte ich nach Möglichkeit nicht mehr gestört werden, Chief Executive. Schönen Tag, und grüßen Sie mir Berlin!«
11
Berlin-Dahlem, Gelände der USMLM24 im Föhrenweg | 17.40 h
»Heißt das, Sie unterstellen mir, ich würde nicht die Wahrheit sagen?«
Luciano Calabrese hasste es, Gefühle zu zeigen. Noch mehr allerdings hasste er es, wie ein Trottel dazustehen. Schließlich war er nicht irgendein x-beliebiger Lakai aus dem Weißen Haus und dieser irische Hosenscheißer, der sich Präsident schimpfte, nur zwei Jahre älter als er. Der Chef von DECOP schäumte vor Wut. Das würde er sich nicht bieten lassen. Schon gar nicht vonseiten eines neureichen Schnösels, der, so seine feste Überzeugung, seine Karriere einzig und allein den Finanzspritzen seines Vaters, manipulierten Wahlen und Betrügereien in großem Stil zu verdanken hatte.
»Schönen Tag, und grüßen Sie mir Berlin!«
Feuerrot vor Zorn, schleuderte Calabrese den Hörer auf die Gabel und ballte die Faust. »Dafür wirst du mir büßen, du …«, knirschte er, kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »So wahr ich Luciano Calabrese heiße!«
»Mal ehrlich, Chief Executive – haben Sie wirklich damit gerechnet, dass Kennedy unseren Köder schlucken würde?« Arrogant wie immer, was sich vor allem in seinem Tonfall niederschlug, stand Jermaine Ross, knapp 32 Jahre alter Sohn eines Schrotthändlers aus Detroit, am Fenster der geräumigen Backsteinvilla und blickte mit ausdrucksloser Miene in den weitläufigen, knapp 10.000 Quadratmeter großen und von mächtigen Kiefern umgebenen Garten hinaus. Das ehemalige Hauptquartier von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, seines Zeichens Chef des OKW25, war unmittelbar nach dem Krieg von den Amerikanern requiriert, im Lauf der Jahre zu einer unverzichtbaren Bastion diverser US-Nachrichtendienste ausgebaut und mit allem vollgestopft worden, was das Herz der vor Ort operierenden Agenten höher schlagen ließ. So unter anderem mit jeder nur erdenklichen Art von Abhörgeräten, Apparaturen zur Verschlüsselung und Dechiffrierung von Funksprüchen und nicht zuletzt mit einem hochmodernen Fotolabor, um das sie sogar der britische MI626 beneidete. Genützt hatte dies während der vergangenen Tage und Wochen nicht viel, tappte man doch bezüglich der Gerüchte über eine Abriegelung des Ostsektors von Berlin weiterhin im Dunkeln. Ob und wann Chruschtschow und seine Ostberliner Gefolgsleute Ernst machen würden, hatte bislang kein Mensch herausfinden können, von der Frage nach dem Wie gar nicht zu reden. Außer wilden Spekulationen, vereinzelten Hinweisen befreundeter Dienste und vagen Andeutungen vonseiten der eigenen Undercover-Agenten war bislang nicht viel durchgesickert. Ein Grund mehr, dass sich die Stimmung von Calabrese, der seine Felle allmählich davonschwimmen sah, immer mehr dem Nullpunkt näherte.