»Nichts für ungut, Sir. Dass wir über einen Agenten mit telepathischen Fähigkeiten verfügen, war mir bislang nicht bekannt.«
»Ruhig Blut, Ross. Den brauchen wir auch nicht.«
»Und wieso?«
»Ganz einfach – weil wir imstande sind, jeden seiner Schritte genauestens zu verfolgen.« Calabrese lachte schadenfroh in sich hinein. »Da staunen Sie, was? Bei dem Schnippchen, das er uns heute Morgen am Bahnhof Zoo geschlagen hat, ist ihm nämlich ein kleiner Fehler unterlaufen.«
»Und der wäre?«
»Zu meinem größten Bedauern hat er den Peilsender, der in Bradlees Aktenkoffer versteckt war, übersehen. Ein Fehler mit Konsequenzen, habe ich doch Brannigan, der den Zarewitsch lokalisiert hat, durch Gonzales den Auftrag erteilen lassen, seinen Schützling umgehend zu liquidieren.«
Ross atmete spürbar auf. »Dann wäre das wohl geklärt!«, stieß er erleichtert hervor.
»Noch nicht ganz, mein Lieber – noch nicht ganz.«
Ross stutzte. »Und wieso?«
»Weil Ihnen die ehrenvolle Aufgabe zukommt, Brannigan nach Erledigung seines Auftrages ebenfalls zu liquidieren. Im Klartext: Ich traue ihm nicht über den Weg, weder ihm noch seinem ehemaligen Schüler.«
»Aber …«
»Kein Aber, Ross. Sie werden abwarten, bis Brannigan ihn aufgespürt hat. Sollte er ein krummes Ding drehen oder den Zarewitsch entwischen lassen oder sogar gemeinsame Sache mit ihm machen, erledigen Sie ihn sofort. Wenn nicht, erst nachdem er seinen Auftrag erfüllt hat.«
»Und warum nicht gleich?«
Calabrese grinste über das ganze Gesicht, drückte seine Havanna aus und sagte: »Weil es nach außen hin so aussehen soll, als ob zwei feindliche Agenten aneinandergeraten wären. Ein kleiner Shoot-out, Sie verstehen. A erschießt B, wird jedoch tödlich verwundet und bleibt ebenfalls auf der Strecke. Kopf hoch, C, Sie kriegen das schon hin!«
»Und die verdeckte … ich meine, unter den gegebenen Umständen sollten wir das geplante Kommandounternehmen …«, stammelte Ross, wurde jedoch von Calabrese auf eine Weise abgewürgt, dass ihm die Lust auf weitere Einwände verging.
»… auf keinen Fall abblasen, falls es das ist, was Sie sagen wollten, Jermaine. Heißt: In etwas mehr als zehn Stunden wird Operation Uranus wie geplant über die Bühne gehen – ohne Rücksicht auf Verluste.« Calabrese fletschte die giftgelben Zähne, und während er auf die Uhr schaute, huschte ein zynisches Lächeln über sein Gesicht. »Ich muss jetzt wirklich los, Ross, sonst verpasse ich meinen Flug. Und meinen Termin bei Mister Kennedy!«
12
Bahnhof Berlin-Wannsee | 17.50 h
»So, jetzt reden wir mal Tacheles miteinander!«, kündigte Sydow, krebsrot und kurz vor dem Platzen, mit grimmiger Miene an, bevor er sich den in Ehren ergrauten Zugführer der Berliner Verkehrsbetriebe zum wiederholten Male zur Brust nahm. Übermäßig viel herausgekommen war während der vergangenen Dreiviertelstunde, die er im Aufenthaltsraum der S-Bahn-Bediensteten abgesessen hatte, nämlich nicht. Kein Wunder, dass Sydows Laune mittlerweile unter null gesunken und der Groll gegenüber dem näselnden, nuschelnden und wie eine missglückte Hans-Moser-Attrappe anmutenden Lokführer bedrohlich gestiegen war. Sydow war lange genug im Dienst, um zu wissen, dass die höchstens 1,70 Meter große Jammergestalt etwas zu verbergen hatte. Andernfalls wäre Klimowitz seinem Blick nicht permanent ausgewichen und ängstlich darauf bedacht gewesen, kein falsches Wort zu sagen. Sein Pech, dass er mit seiner Hinhaltetaktik an den Falschen geraten war. An jemanden, der es auf den Tod nicht ausstehen konnte, wenn man ihn an der Nase herumführte. »Auf die Art kommen wir nämlich nicht weiter!«
»Ich wüsste nicht, wozu das gut sein soll, Herr Kommissar«, ließ Paul Klimowitz, 53, wohnhaft in Berlin-Schöneberg, mit dem Ausdruck größten Bedauerns im eingefallenen und von tiefen Furchen und auffallend großen Tränensäcken geprägten Allerweltsgesicht verlauten. Anschließend nippte er an seinem Kaffee, machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter und stellte den Becher wieder auf den Tisch. Bei all dem vermittelte er den Eindruck, er habe soeben Gift genommen, was, wie Sydow vermutete, allerdings nur eine Masche war. »Ehrlich.«
»Währt bekanntlich am längsten«, gab er barsch zurück, zur Verwunderung seines Gesprächspartners, der offenbar auf korrekte Kleidung hielt, immer noch mit Jeans, Hawaiihemd und Sandalen bekleidet. »Weshalb ich Sie dringend auffordern muss, mir endlich die Wahrheit zu sagen. Also: Wann genau haben Sie den Leichnam, um den es hier geht, entdeckt?«
»Bei Dienstschluss, Herr Kommissar.«
»Hauptkommissar, wenn schon, denn schon.« Kurz davor, aus der Haut zu fahren, baute sich Sydow vor Klimowitz auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und knurrte: »Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen, nicht mir. Mit einem Toten durch halb Berlin kutschieren und nichts davon mitkriegen – den Bären können Sie jemand anderem aufbinden, Sie Märchenonkel.«
»Nicht nötig.«
»Auf gut Deutsch – Sie behaupten weiterhin steif und fest, nicht das Geringste mitbekommen zu haben.«
»Ja.«
»Und die Fahrgäste?«
»Die auch nicht.«
»Das kaufe ich Ihnen nicht ab, Klimowitz.« Sydow musste sämtliche Register der Selbstbeherrschung ziehen, um nicht aus den Latschen zu kippen. Dass ihm Klimowitz etwas verheimlichte, merkte sogar ein Blinder. Die Frage war nur, vor wem oder was er so viel Angst hatte, dass er jetzt, nach fast einer Stunde, immer noch nicht mit der Wahrheit herausrückte. »Hören Sie endlich auf, einen auf ahnungslos zu machen. Das kann ich auf den Tod nicht ausstehen. Wie die Dinge nun mal liegen, waren Sie es, der den Toten gefunden hat. Wann genau, wäre noch zu klären.« Sydow ließ sich auf der Tischkante nieder, stellte den Fuß auf einen Stuhl und war gerade dabei, sich eine anzuzünden, als Naujocks auf einmal den Raum betrat, ihm etwas ins Ohr flüsterte und sich anschließend wieder entfernte. »Gut zu wissen«, stellte Sydow befriedigt fest, bevor er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte. »Endlich mal wieder eine gute Nachricht, Herr Klimowitz.«
»Heißt das, Sie haben ihn?«
»Sehen Sie, so kommen wir der Sache schon näher.« Sydow lächelte zufrieden in sich hinein. Einer der ältesten Tricks, seit es Verhöre gab, und sein Gegenüber war prompt darauf hereingefallen. »Apropos – woher wollen Sie eigentlich wissen, dass es sich um einen Einzeltäter gehandelt hat?«
Knallrot im Gesicht, schlug Klimowitz die Augen nieder und rutschte wie ein beim Spicken ertappter Erstklässler auf seinem Stuhl hin und her. »So habe ich das nicht gemeint«, wimmerte er, die Hände krampfhaft ineinander verschränkt. »Da müssen Sie mich falsch ver …«
»Raus mit der Sprache!«, setzte Sydow unbarmherzig nach. »Was genau haben Sie gesehen? Oder stecken Sie mit dem Täter unter einer Decke?«
Klimowitz ließ den Kopf hängen und schwieg sich aus.
»Um Sie nicht weiter im Unklaren zu lassen, Herr Zugführer: Wie mir mein Kollege von der Spurensicherung soeben mitgeteilt hat, besteht Grund zu der Vermutung, dass die Tür im hintersten Waggon Ihres Zuges während der Fahrt hierher von Hand geöffnet worden ist.«
»Von Hand?«
»Jetzt tun Sie doch nicht so, Klimowitz. Mir können Sie nichts vormachen. Je länger Sie den Ahnungslosen spielen, desto verdächtiger machen Sie sich.« Sydow zog die Brauen hoch, rieb sich genüsslich die Hände und taxierte sein Gegenpart mit einem Blick, der Humphrey Bogart alle Ehre gemacht hätte. Der obligatorische Glimmstängel, gegen den er sich mit aller Macht sträubte, bedauerlicherweise nicht inbegriffen. »Soll ich Ihnen sagen, wie sich das Ganze abgespielt hat?«
Der S-Bahn-Bedienstete schnappte nach Luft, öffnete den Mund – und sackte buchstäblich in sich zusammen.
»Keine Einwände? Freut mich.« Sydow erhob sich, sah Klimowitz von oben herab an und sagte: »Machen wir’s kurz. Irgendwo zwischen dem Lehrter Bahnhof und dem Bestimmungsort des Zuges, einem malerischen Flecken Erde namens Wannsee, wird der Unbekannte, von dem Sie behaupten, ihn erst am Ende der Fahrt tot aufgefunden zu haben, auf höchst unsanfte Art und Weise – nämlich per Kopfschuss – ins Jenseits befördert. Der Mörder ergreift daraufhin die Flucht, jedoch nicht so, wie man auf Anhieb vermuten würde. Aus irgendeinem, zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht geklärten Grund schnappt er sich nämlich einen Feuerlöscher, bricht das Gehäuse auf, in dem sich der Hebel befindet, mit dessen Hilfe man die linke Waggontür von Hand öffnen kann. Und verdrückt sich. Nicht ganz ungefährlich und alles andere als unauffällig, aus seiner Sicht jedoch offenbar das einzig Richtige. Soweit alles klar?«