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Von da an war es stetig mit ihm bergab gegangen. Buchstäblich alles, was seinem Leben bislang einen Sinn gegeben hatte, war ihm aus den Händen geglitten. Er hatte gelernt zu hassen, aus vollem Herzen. Nicht etwa nur die Welt, in der er lebte, sondern vor allen Dingen sich selbst. Jens-Uwe Trebitsch, Vorzeigekader und Parteiaktivist, war seiner selbst überdrüssig geworden. Dabei war es allerdings nicht geblieben. Knapp ein Jahr zuvor, während der Feiern anlässlich des 11. Jahrestages der verhassten Republik, hatte sich im Café Warschau an der Stalinallee ein Mann zu ihm an den Tisch gesetzt und sich als Angehöriger der bulgarischen Mission ausgegeben. Abgekauft hatte er ihm das natürlich nicht, obwohl er schon einen in der Krone gehabt hatte. Im weiteren Verlauf des feuchtfröhlichen Abends war ihm dann aber ziemlich schnell klar geworden, mit welcher Art Zeitgenosse er sich da eingelassen hatte. Keineswegs schockiert, hatte er den Versuch, ihn als Agenten für die CIA anzuwerben, wie eine Befreiung empfunden. Als ein ideales Mittel, sich an allem, was ihn zutiefst abstieß, zu rächen. Reue hatte er dabei keine empfunden, höchstens Befriedigung. Jetzt war er es, der anderen Schaden zufügte, in einem Ausmaß, wie es ihm niemand zugetraut hätte. Er hatte einfach alles verraten, was er auf Lager gehabt hatte, und das war nicht gerade wenig gewesen. Der Zufall wollte es, dass nämlich ausgerechnet er von Ulbricht zum Sonderkurier auserkoren worden war. Aus Angst, abgehört zu werden, war dieser nämlich auf die Schnapsidee gekommen, den sowjetischen Botschafter mithilfe schriftlicher Lageberichte über den Fortgang der Vorbereitungen zur Abriegelung des Ostsektors von Berlin auf dem Laufenden zu halten. Ein verhängnisvoller Fehler, fast so groß wie der, ausgerechnet ihn, Jens-Uwe Trebitsch, mit der Aufgabe zu betrauen, die Lageberichte in die sowjetische Botschaft Unter den Linden zu befördern und sie dem Statthalter Moskaus persönlich zu übergeben. Er hatte nicht einen Moment gezögert und sämtliche Dokumente, die man ihm anvertraut hatte, postwendend fotografiert. Um sie anschließend treu und brav an Perwuchin zu übergeben. Gerade so, als sei nichts gewesen. Je reicher die Ausbeute, umso erfreuter war sein Führungsoffizier gewesen, eben jener Mann, der ihn damals angeworben hatte. Wie in Geheimdienstkreisen üblich, hatte Trebitsch zunächst keinen blassen Schimmer gehabt, wie er hieß oder woher er kam. Erst viel später, bei einem konspirativen Treffen auf dem Alexanderplatz am gestrigen Freitag, hatte er wenigstens seinen Decknamen erfahren.

Und den Zarewitsch danach nicht wiedergesehen.

»He, Trebitsch – wo steckst du denn? Der Alte will dich sprechen, dawei!29«

Immer noch das gleiche stillvergnügte Lächeln auf dem Gesicht, stieß sich Trebitsch vom Geländer ab, rückte seine dunkelblaue Krawatte zurecht und folgte seinem Kollegen auf dem Fuß. Immer mit der Ruhe, Walter!, machte er sich insgeheim lustig, deine Tage sind ohnehin gezählt. Trebitschs Genugtuung kannte keine Grenzen. An den Amerikanern, allen voran Kennedy, würde sich Ulbricht die Zähne ausbeißen. Dafür hatte er, sein Leibwächter, ja gesorgt. Detaillierte Informationen über den bevorstehenden Mauerbau, Aufmarschpläne der NVA, Mannschaftsstärke der beteiligten Vopo-Einheiten. Mit diesen Informationen würden die Amerikaner bestimmt etwas anfangen können. Das würde sie wachrütteln, auf den Plan rufen, zu Gegenaktionen anstacheln. So leicht, wie Ulbricht sich das vorstellte, würde sich Kennedy nicht an der Nase herumführen lassen. Hundertprozentig nicht. Halb Berlin einmauern, noch dazu in einer Nacht-und-Nebel-Aktion? Das hatte sich dieser sächselnde Spitzbart so gedacht. Kennedy würde sich das nicht bieten lassen und energisch dagegen vorgehen. Daran und an der Tatsache, dass seine Informationen in die richtigen Hände gelangen würden, hegte Jens-Uwe Trebitsch nicht den geringsten Zweifel.

Der Zarewitsch würde das bestimmt hinkriegen, keine Frage.

Wie berauscht vom eigenen Wunschdenken, näherte sich Trebitsch dem mehrstöckigen, mit einem Walmdach und jedem nur erdenklichen Komfort ausgestatteten Gästehaus, würdigte die Ansammlung illustrer Parteigrößen keines Blickes und betrat das Gebäude durch den Seiteneingang. Jagdtrophäen, Erinnerungsplaketten und Geweihe. Und abermals Geweihe. Sechsender, Achtender, Zwölfender, etliche davon aus der Zeit, als Görings Leibjäger hier logiert hatte. Trebitschs Miene erstarrte. Der Jagdeifer, den manch einer der hohen Herren an den Tag legte, widerte ihn an, fast so sehr wie ihre Gier nach Privilegien.

»Herein.« Allein schon der Tonfall, mit dem Ulbricht auf sein Klopfen reagierte, hätte ihn stutzig machen müssen. Der Tonfall und die beiden Stasi-Beamten draußen auf dem Flur. Immer noch guter Dinge, achtete Trebitsch jedoch nicht auf sie, betrat den Raum und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Ulbricht, der stocksteif an seinem Schreibtisch saß, war nicht allein. Unmittelbar neben ihm, in etwa gleich weit von der Nummer eins der SED und Trebitsch entfernt, stand ein Unbekannter, dem man den MfS30-Schergen schon aus 100 Metern Entfernung ansah. Er war um die 40, sah gepflegt aus und trug einen dunklen Anzug samt Hut und Krawatte. Und lächelte unentwegt. Ganz anders Ulbricht, der die Wut, die ihn gepackt hatte, nur mit Mühe unterdrücken konnte. »Du weißt, warum ich dich habe rufen lassen, Genosse?«, fragte er, dermaßen aufgebracht, dass sich sein aufgrund von Kehlkopf-Diphterie zum Fisteln verdammtes Organ beinahe überschlug. Dabei deutete er, ohne ihm Zeit zum Antworten zu geben, auf eine gestochen scharfe Schwarz-Weiß-Aufnahme, die griffbereit auf dem blank polierten Schreibtisch lag. »Oder muss ich dir etwa auf die Sprünge helfen?«

Nein, das musste Genosse Ulbricht nicht. Und er musste ihm auch nicht auseinandersetzen, wo genau das Foto geschossen worden war. Nämlich auf dem Alexanderplatz. Trebitsch setzte ein Lächeln auf, um das ihn manch einer, der in die Fänge der Stasi geraten war, gewiss beneidet hätte. Schon gar nicht musste ihm dieser Hinterhof-Stalin erklären, was der adrett gekleidete Herr zu seiner Rechten alles anstellen würde, um den Verrat, den er begangen hatte, bis in sämtliche Details hinein aufzuklären. Diesbezüglich konnte man sich auf die Stasi verlassen. Und zwar absolut.

Blieb also nur eine Möglichkeit, und zwar die, mit der er von Anbeginn hatte rechnen müssen. Ohne auch nur einen Hauch von Furcht oder Verzweiflung im Gesicht, setzte Jens-Uwe Trebitsch, laut Stasi-Akte 29 Jahre, in Wahrheit jedoch mindestens dreimal so alt, sein strahlendstes Lächeln auf, wischte eine goldgelbe Haarlocke aus dem Gesicht und sah Ulbricht, auf dessen Gesicht der blanke Hass aufloderte, mit mitleidigem Augenaufschlag an. Danach zerbiss er die Zyankali-Kapsel, die er mit einer blitzschnellen Handbewegung aus der Brusttasche gefischt hatte.

*

»Und das ausgerechnet heute!« Auch jetzt, knapp zehn Minuten nachdem Trebitschs Leichnam in aller Eile abtransportiert worden war, konnte sich Ulbricht nicht beruhigen und stiefelte ruhelos auf und ab. Nicht so der immer noch anwesende Oberleutnant der DDR-Staatssicherheit, in fast allem das exakte Gegenteil zur Nummer eins der SED. Mischa Bartosz, 38 Jahre, mittelgroß, gut aussehend und äußerst charmant, war ein Mann, auf den Ulbricht bauen konnte. Er sprach perfekt Russisch, hatte wie er während des Krieges in der Sowjetunion gelebt, dort Flugzeugbau studiert und nebenbei als Redakteur gearbeitet. Bartosz war der Mann für schwierige Fälle und selbst innerhalb des MfS nur den Wenigsten bekannt. Er war der Mann ohne Gesicht, loyal, effizient, kaltblütig wie kaum ein anderer.

Und völlig skrupellos.

»Was nun?« Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand Ulbricht am Fenster und blickte mit verkniffener Miene auf die Terrasse hinaus, wo sich die versammelte Parteiprominenz gerade anschickte, auf Wodka, russischen Kaviar und Krimsekt umzusteigen. Getreu seiner Natur erweckte dies sein spontanes Unbehagen, doch da er andere Sorgen hatte, schluckte er seinen Unmut hinunter, wandte sich an Bartosz und krächzte: »Schöne Bescherung, was?«