»Bist du dir da auch ganz …«
»Nicht ich, Tom, sondern die Kollegen aus dem kriminaltechnischen Labor. Und das ist längst noch nicht alles.« Krokowski warf sich in Pose, reckte das Kinn, sodass die Hässlichkeit seiner blassgelben Fliege besonders gut zur Geltung kam, und ließ den Blick zwischen Sydow und Naujocks hin und her wandern. »So, und jetzt möchtet ihr bestimmt wissen, was ich noch alles in petto habe.«
»Falls du es schaffst, vor deiner Pensionierung auf den Punkt zu kommen – gern.«
»Die Mühe, einen gewissen Josef Malinowski ausfindig zu machen, brauchen wir uns gar nicht zu geben, Tom. Laut Einwohnermeldeamt Ost, zu dem ich enge Beziehungen unterhalte, gibt es ihn nämlich überhaupt nicht. Zumindest nicht dort, wo der Passierschein ausgestellt worden ist – in Pankow.«
»Beziehungen, Herr Kriminalkommissar, habe ich da eben richtig gehört? Du bist ja ein ganz Schlimmer.«
»Rein verwandtschaftlicher Natur, Tom – wo denkst du hin.«
»Deine Ausreden werden immer schlechter, Kroko«, warf Sydow ein, ließ sich von Krokowski den Passierschein aushändigen und nahm ihn genauer in Augenschein. »Trotzdem – mein Kompliment.«
»Kinderspiel«, wiegelte Krokowski ab, der das Lob, welches Sydow ihm zollte, in vollen Zügen genoss. »Fragt sich nur, mit wem wir es in Wirklichkeit zu tun haben.«
»Und ob der Kerl, hinter dem wir her sind, überhaupt von drüben kommt.«
Krokowski und Naujocks tauschten einen überraschten Blick, enthielten sich jedoch jeglicher Kommentare.
»Eins kommt mir bei der ganzen Sache nämlich Spanisch vor«, fuhr Sydow wie im Selbstgespräch fort, erhob sich und begann, hinter dem Schreibtisch auf und ab zu gehen.
»Was denn?«
»Die Tatsache, Waldi, dass er seinen Passierschein verloren hat.« Sydow blieb stehen, ließ die Hand über den Nacken gleiten und sagte: »Mal ehrlich, Jungs – wenn man einen Mord vertuschen will und seine Visitenkarte hinterlässt, ist man ja wohl …«
»… dümmer, als die Polizei erlaubt?«
»Genau, Elvis. Und was folgt daraus?«
»Dass die Ganoven, hinter denen wir her sind, absichtlich eine falsche Fährte gelegt haben.«
»Kluges Kind.« Sydow umrundete den Schreibtisch und legte Naujocks die Hand auf die Schulter. »Und weshalb?«
»Na, um von sich abzulenken, weshalb den sonst?«
»Und aus welchem Grund?«
Naujocks, dem das Ganze allmählich zu bunt wurde, rollte mit den Augen. »An dir ist wirklich ein Oberlehrer verloren gegangen, Tom!«, murrte er, von Sydows Frage-und-Antwort-Spiel offenbar wenig angetan. »Worauf willst du eigentlich hinaus?«
»Denk doch mal nach, Waldi.« Sydow verpasste Naujocks einen sanften Schubs. »Wieso ausgerechnet ein Passierschein? Ausgestellt in Berlin-Ost?«
»Weil der Eindruck erweckt werden soll, dass es dort Leute gibt, die mit Blaschkowitz noch eine Rechnung offen hatten. Was weiß ich – vielleicht ist er deshalb ausgebüchst. Soll ja hin und wieder vorkommen.«
»Und bei wem, du Diplom-Spürnase, könnte sich der gute Mann derart unbeliebt gemacht haben, dass er nach allen Regeln der Kunst exekutiert worden ist? Na, fängt’s demnächst an zu klingeln?«
»Bei der Stasi, Herr Lehrer«, antwortete Naujocks treu und brav, drehte sich zu Sydow um und zwinkerte ihm spitzbübisch zu. »Die aber bestimmt nicht so dämlich gewesen wäre, ihre Visitenkarte in Form eines gefälschten Passierscheines zu hinterlassen.«
»Wer also könnte deiner Meinung nach ein Interesse daran haben, von sich abzulenken und den Mord an Blaschkowitz dem VEB Horch, Guck und Greif33 in die Schuhe zu schieben? Keine Bange, Waldi – gleich ist es geschafft.«
»Moment mal, Tom, du willst doch nicht etwa andeuten, dass der oder die Mörder von Blaschkowitz … du glaubst doch wohl nicht im Ernst, die CIA hat etwas damit zu tun?«
Sydow wandte sich ab und trat ans Fenster. »Und ob ich das glaube, Waldi!«, bekräftigte er. »Wiewohl ich einstweilen nicht in der Lage bin, meine Theorie zu … verdammt noch mal – kann man sich hier nicht mal in Ruhe unterhalten?« Den Passierschein immer noch in der Hand, ging Sydow zum Telefon und riss den Hörer von der Gabel. »Wer zum Teufel … ach, du bist’s, Heribert. Schlecht gelaunt – wie kommst du denn auf die Idee? Komm schon, lass hören!«
Im Verlauf des knapp einminütigen Gesprächs, während dem sich seine Miene merklich aufhellte, warf Sydow den Passierschein auf den Schreibtisch, setzte sich und hörte gespannt zu. »Bist du dir da auch ganz sicher?«, war alles, was er zu der Schilderung des Gerichtsmediziners zu sagen hatte, woraufhin er ein paar Dankesworte murmelte und den Hörer wieder auf die Gabel fallen ließ.
»Und – was hat der Leichenfledderer rausgekriegt?«, fragte Naujocks und sah Sydow erwartungsvoll an. Er konnte es sich nicht verkneifen, ihn auf den Arm zu nehmen: »Jetzt komm schon, lass hören.«
»Na, wer sagt’s denn!«, murmelte Sydow, zuerst Naujocks und dann Krokowski fest im Blick. »Hab mir schon so was gedacht.« Und weiter: »Also, wenn ihr mich fragt, Jungs, können wir uns auf einiges gefasst machen.«
»Nichts Neues, oder?«, erwiderte Naujocks und ließ seiner Frage gleich die nächste folgen: »Wieso denn?«
»Weil jeder, selbst wenn er CIA-Agent ist, mitunter Fehler begeht.« Sydow griff nach seinen Zigaretten, widerstand jedoch der Versuchung, sich eine anzuzünden und warf die Schachtel in den Abfalleimer. »Um euch nicht weiter auf die Folter zu spannen, Männer: Laut Obduktionsbericht stammt die Kugel, die Blaschkowitz das Leben gekostet hat, aus einer …«
»… Parabellum 08, welche unter anderem von der CIA sowie diversen westlichen Geheimdiensten benutzt worden ist beziehungsweise immer noch benutzt wird«, vollendete Krokowski in dem Bemühen, erneut bei Sydow zu punkten. »Tja, wenn man der Konkurrenz schon die Schuld in die Schuhe schieben will, sollte man auch ihre Schießprügel benutzen.«
»Eben.«
»Oder sich erst gar nicht erwischen lassen.«
»Ganz deiner Meinung, Kroko.« Sydow knipste die Schreibtischlampe an und betrachtete den Passierschein genauer. »Kommt vermutlich mit einer Rasur pro Woche aus«, bemerkte er. »Das reinste Unterprimanergesicht.«
»Und so was ist bei der CIA!«, ließ Naujocks mit Blick auf das Lichtbild verlauten, auf dem ein blutjunger, anscheinend gerade einmal 20 Jahre alter Mann mit Brille und Seitenscheitel zu erkennen war. »Kein Wunder, dass die es zu nichts bringen.«
»An deiner Stelle wäre ich da etwas vorsichtig, Waldi«, tadelte Sydow seinen Kollegen, während dieser sich zurücklehnte und seiner Bemerkung eine wegwerfende Handbewegung folgen ließ. »Besonders, was den Zweiten im Bunde angeht. Zu dumm, dass wir keine genaue Beschreibung von ihm haben, was, Kroko?«
Der Angesprochene pflichtete ihm wohl oder übel bei. »Groß, athletisch, kurzes Haar– mehr habe er nicht erkennen können, sagt Lenuweit.«
»Heißt, wir stecken in einer Sackgasse«, grummelte Naujocks, zur Abwechslung einmal mit seinem Schlipps beschäftigt, der von dem seines großen Vorbildes nicht zu unterscheiden war. »Gut möglich, dass der CIA-Killer, von dem wir gerade reden, längst über alle Berge ist.«
»Athletisch, aha.« Nicht ganz bei der Sache, hatte Sydow den Kommentar seines Kollegen nur am Rande registriert, richtete sich auf und starrte mit nachdenklicher Miene an die gegenüberliegende Wand, wo eine Karte von Berlin und Umgebung hing. Mehr als 16 Jahre nach dem Krieg war die Stadt immer noch in zwei Hälften geteilt, und es stand zu befürchten, dass dieser Zustand weiter andauern würde. Hüben wie drüben war man zu keinerlei Konzessionen bereit, wobei kein Zweifel bestand, wer in dieser Stadt die Fäden zog. Sydows Blick verengte sich. Zwei Morde innerhalb weniger Stunden, und vieles, wenn nicht gar alles, deutete darauf hin, dass die Herren aus Langley ihre Finger mit im Spiel hatten. Hier ein unbekannter Toter in der S-Bahn, dort ein eher unscheinbarer Flüchtling aus der Ostzone, der auf ebenso mysteriöse Weise ums Leben gekommen war. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem man die Spannung, die über der Stadt lag, buchstäblich mit Händen greifen und nicht voraussehen konnte, was einem der nächste Tag bescheren würde. Nicht unbedingt ratsam, dachte Sydow, sich in einer derartigen Situation mit der CIA anzulegen. Doch wäre er nicht der gewesen, für den ihn seine Kollegen hielten, wenn er mir nichts, dir nichts klein beigegeben und die Spur, auf die er gestoßen war, geflissentlich ignoriert hätte. Da kannten ihn die Herren, mit denen er es zu tun bekommen hatte, aber schlecht. Hatte er erst einmal Lunte gerochen, war er nicht mehr zu bremsen, vor allem, wenn die Amerikaner glaubten, Recht und Gesetz nach Belieben brechen zu können und sich ihre Methoden von denjenigen gewöhnlicher Krimineller nicht im Geringsten unterschieden.