»Du vielleicht, aber nicht ich.«
Im Innersten berührt, flog ein wehmütiges Lächeln über Sydows Gesicht. »Tu, was du nicht lassen kannst, Kroko«, seufzte er und verpasste seinem Assistenten einen freundschaftlichen Klaps. »Da fällt mir gerade ein: Falls du nichts Besseres vorhast, könntest du ja mal bei den Hinterbliebenen von Blaschkowitz vorbeischauen. Denen sollten wir heute Abend noch Bescheid geben. In meiner derzeitigen Verfassung bin ich wirklich nicht in der Lage dazu. Keine Angst, du wirst schon die richtigen Worte finden. Für so was bist du allemal besser geeignet als ich.«
»Wenn du meinst.«
»Aber klar doch, Kroko. Kopf hoch, du wirst das Ding schon schaukeln. Falls es dich beruhigt, können wir morgen früh miteinander telefonieren. Was mich betrifft, werde ich machen, dass ich nach Hause komme. Zur Feier des Tages mit dem Taxi. Lea wartet bestimmt schon auf mich. Und wehe, mich ruft jemand an. Dann ist aber wirklich was los. Mach’s gut, Kumpel – bis morgen früh!«
»Mach’s besser, Tom«, entgegnete Sydows Assistent und setzte alles daran, Naujocks aus den Fängen der brünetten Animierdame zu befreien, um anschließend ebenfalls den Nachhauseweg anzutreten. »Bis irgendwann.«
*
Eine Viertelstunde später, mit sich und der Welt wieder halbwegs im Reinen, hatte es sich Sydow auf dem Beifahrersitz eines Taxis bequem gemacht und warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Schlag neun. Auf die Minute. Er war reichlich spät dran, aber hoffentlich nicht zu spät, um den verhunzten Nachmittag möglichst rasch zu vergessen und den Abend zusammen mit Lea in den eigenen vier Wänden ausklingen zu lassen.
»Janz schön wat los hier, wa?«
In Gedanken längst bei seiner Frau, hatte Sydow den Taxifahrer völlig vergessen. Lust auf Konversation hatte er zwar keine, aber da er nicht unhöflich sein wollte, rang er sich zu einem schicksalsergebenen Nicken durch und sagte: »Kein Wunder, ist ja auch Samstag.« Den Zusatz ›Und was für einer!‹ konnte er sich gerade noch verkneifen.
Der Taxifahrer, ein behäbiger Koloss mit Prinz-Heinrich-Mütze, viel zu engem Hemd und noch engeren Hosen, kurbelte das Fenster herunter, legte den Ellbogen auf die Kante und murmelte etwas vor sich hin, das sich in Sydows Ohren wie eine kollektive Verwünschung sämtlicher Müßiggänger in Westberlin anhörte. »Auch das noch, haste Töne!« Im Anschluss daran trat er auf die Bremse und wartete, bis eine Horde angetrunkener GIs, die über den Zebrastreifen in Höhe der Gedächtniskirche torkelte, auf der gegenüberliegenden Straßenseite angekommen war. »Benehmen sich wie die letzten Menschen. Ab durch die Mitte, kann ick da nur sagen. Je schneller diese versoffenen Cowboys die Fliege machen, desto besser.«
»Keine gute Idee, wenn Sie mich fragen.«
»Und ob dat eine jute Idee ist!«, erboste sich der Taxifahrer und sah Sydow, der seine Bemerkung auf der Stelle bereute, mit missmutiger Miene an. »Soll ick Ihnen mal wat sagen, Herr …«
»Sydow.«
»Anjenehm, Paschulke. Soll ick Ihnen mal wat flüstern, werter Herr? Die Amis haben’s jerade nötig. Die haben doch wirklich jenug Dreck am Stecken. Korea, die Pleite in der Schweinebucht, seit Neuestem auch noch Vietnam – andauernd müssen diese Yankees ihre Nase in anderer Leute Anjelegenheiten stecken.«
»Wie zum Beispiel in die Unsrigen, meinen Sie.«
»Eens kann ick Ihnen sagen, ob Sie mir’s nun glauben oder nich. Allzu lange wird sich der Iwan dat nich mehr mit angucken. Und der olle Ulbricht da drüben ooch nich. Dann kriegt der Ami eins vor den Latz jeknallt. Dass es nur so scheppert.«
»Und woher wollen Sie das so genau wissen?«
»Von meinem Bruder. Lebt drüben im Osten. Parteiaktivist. Eener von den Hundertprozentigen.«
»Und Sie?«
»Icke? Is dat Ihr Ernst? Ick hab mit der Politik nüscht am Hut. Aber auch gar nüscht.« Nicht gewillt, auf Sydows Ablenkungsmanöver einzugehen, tippte sich der Taxifahrer an die Stirn und schwadronierte: »Jedenfalls sagt mein Bruder, dass es demnächst zur Sache jehn und der Iwan diesem Kennedy zeigen wird, wer der Herr im Hause is.«
Sydow, der für Politiker nicht übermäßig viel übrig hatte und allein deswegen keinerlei Lust verspürte, sich auf eine längere Diskussion einzulassen, verfiel in beharrliches Brüten und überlegte fieberhaft, wie er das unerquickliche Thema abschließen konnte. Nicht so der Taxifahrer, der sein Schweigen offenbar missverstand und jetzt erst richtig loszulegen begann. »Unter uns, Herr Sydow –«, setzte er seine Rede zur Lage von Berlin ungeniert fort, »sind Sie vielleicht scharf drauf, dass wir jeden Tag über tausend Hungerleider aus dem Osten bei uns aufnehmen? Irjendwann kommt nämlich mal der Punkt, wo wir uns dat nich mehr leisten können. Und der jute Willy Brandt36 ooch nich. Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Lange jeht dat nicht mehr jut, darauf geb ick Ihnen Brief und Siejel.«
»Eine Frage, Herr Paschulke«, fiel Sydow dem Taxifahrer unvermittelt ins Wort, »haben Sie den Mann auf dem Foto schon mal gesehen?«
»Een Polyp, hätt ick mir ja denken können.« Die linke Hand am Steuer, griff Paschulke nach der Schwarz-Weiß-Aufnahme, die Sydow ihm vor die Nase hielt, blitzte sie scheel an und gab sie postwendend zurück. »Hab ick«, brummte er kurz angebunden, augenscheinlich nicht gerade erfreut. »Und wat is mit ihm?«
»Später, Herr Paschulke«, beschied Sydow seinen Nebenmann und gratulierte sich zu dem Dusel, den er wieder einmal gehabt hatte. »Zuvor hätte ich nämlich ein paar Fragen – mit der Bitte, sie postwendend zu beantworten.«
21
Berlin-Wannsee, Am Großen Wannsee | 21.25 h
»Hier, für Sie!« Sichtlich zufrieden drückte Sydow dem Taxifahrer ein Fünfmarkstück in die Hand, nickte ihm freundlich zu und klopfte auf die Brusttasche seines Sakkos, in der sich das Konterfei von Blaschkowitz befand. »Der Rest ist für Sie.« Danach stieg er aus, schloss die Tür und ging die kurze Strecke, welche ihn von seinem Haus trennte, zu Fuß.
Ein abgekartetes Spiel also. Zumindest sah es danach aus. Sydow beschleunigte seinen Schritt. Hier Ernst Blaschkowitz aus Kreuzberg, dort eine rassige Schönheit, die aus Gründen, die Paschulke nicht klar geworden waren, alles darangesetzt hatte, um mit einem etwa 20 Jahre älteren Mann ins Bett zu steigen. Mit einem Mann, der, gelinde gesagt, mehrere Nummern zu klein für sie und vermutlich auch nicht mehr ganz nüchtern gewesen war. Hinzu kam, dass der Taxifahrer, ein Mann mit geschulter Beobachtungsgabe, felsenfest davon überzeugt gewesen war, es habe sich bei der mysteriösen Schönheit keinesfalls um eine Prostituierte gehandelt. Da es sich bei Paschulke offenbar um einen profunden Kenner der Szene und menschlicher Schwächen handelte, war Sydow geneigt, auf sein Urteil zu vertrauen, wenngleich man das Gegenteil natürlich nicht ausschließen konnte.
Eins war in jedem Fall gewiss, oder, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich naheliegend. Nach Lage der Dinge war Ernst Blaschkowitz Opfer eines bis ins Detail ausgetüftelten Komplotts geworden, auf einen Lockvogel hereingefallen und anschließend, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte, beseitigt und in der Schrottpresse der Firma Lenuweit und Co. deponiert worden. Angenommen, Sydows Hypothese träfe zu, würde dies bedeuten, dass der Vamp, welcher nicht nur bei seinem Verehrer, sondern auch bei Paschulke einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte, mit dem Mörder beziehungsweise den Mördern von Blaschkowitz unter einer Decke steckte. Das wiederum hieß, dass die adrette Dame vom CIA angeheuert und dahingehend instruiert worden war, ihn abzuschleppen, in ihr Hotel zu locken und den ahnungslosen Don Juan in spe seinen Mördern auszuliefern. Die, aus welchem Grund auch immer, alles darangesetzt hatten, die Tat als Werk östlicher Geheimdienste erscheinen zu lassen. Gelungen war ihnen dies jedoch nicht, zumal Paschulke versichert hatte, der Vamp mit Namen Natalja habe es darauf angelegt, Deutsch mit russischem Akzent zu sprechen. Auf Sydows Frage, um was für eine Landsmännin es sich seiner Meinung nach gehandelt habe, hatte der Taxifahrer allerdings passen müssen. Wie von ihr gewünscht, hatte er das ungleiche Paar in eine in der Nähe des Anhalter Bahnhofs gelegene Nobelherberge chauffiert, ein fürstliches Trinkgeld kassiert und anschließend zugesehen, dass er so rasch wie möglich in die Federn kam.