Ein abgekartetes Spiel also – aber mit welchem Ziel?
Entschlossen, die Suche nach dem möglichen Tatmotiv auf den nächsten Tag zu verschieben, setzte Sydow seinen Nachhauseweg fort. Die Straße vor ihm wirkte wie ausgestorben, wäre das Licht nicht gewesen, welches hie und da zwischen den Fensterläden hindurchsickerte, hätte er geglaubt, er spaziere durch eine Geisterstadt. Zudem war er merklich kühler geworden, und obwohl er nicht so leicht fror und nur noch wenige Meter zu gehen hatte, schlug Sydow die Arme übereinander und hastete weiter. Der Ostwind, der einen Birkenzweig über die öde und leer daliegende Uferstraße fegte, roch bereits nach Herbst, überlagert vom Duft welker Blätter, der aus dem Gestrüpp, an dem er vorüberhastete, in die Höhe stieg und sich zu einer nach abgestorbenen Blüten und feuchter Erde riechenden Mixtur vereinigte. Die Stille tat ein Übriges, weshalb ihn das Gefühl beschlich, viel zu früh ausgestiegen und noch kilometerweit von zu Hause entfernt zu sein.
»Hauptkommissar Sydow, wenn ich mich nicht irre?«
In seine Gedanken vertieft, hatte Sydow den Fremden, dessen Stimme aus dem Halbdunkel längs des Weges drang, nicht bemerkt und drehte sich auf dem Absatz um. Seiner Stimme nach zu urteilen war er noch recht jung, von der Körpergröße her mindestens einen Kopf kleiner und gut gebaut. Dass die nächtliche Begegnung kein Zufall war, konnte er sich natürlich denken, weshalb er es bei der Andeutung eines Nickens beließ und die Gestalt, welche ihn unvermutet angesprochen hatte, näher in Augenschein nahm. »Und was verschafft mir die Ehre?«
»Ich denke, wir sollten uns ein wenig unterhalten«, entgegnete der Fremde, aufreizend lässig gegen eine Eiche gelehnt und obendrein auch noch eine Fluppe in der Hand. »Das heißt, falls Sie momentan nichts Besseres zu tun haben.«
»Kommt drauf an.« Sydow hasste es, wenn er den Leuten, mit denen er sprach, nicht in die Augen sehen konnte, und so machte er ein, zwei Schritte nach vorn. Fast gleichzeitig gab der Unbekannte, dessen angewinkeltes Bein auf dem Baumstamm ruhte, seine entspannte Haltung auf, trat aus dem Schatten und schlenderte gemächlich auf ihn zu. Im Schein der Straßenlaterne, die ihr fahles Licht auf den Bürgersteig warf, sah sein Lächeln gezwungen und aufgesetzt aus, worauf Sydow mit instinktivem Argwohn reagierte. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Das tut nichts zur Sache.«
»CIA?«
»Falsch geraten, Herr Kriminalhauptkommissar«, höhnte der tipptopp gekleidete, um die 40 Jahre alte und nicht eben unattraktive Fremde, immer noch das gleiche Lächeln im Gesicht, auf das er anscheinend ein Dauerabonnement besaß. »Wenngleich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt.«
»Dann eben Stasi, hab ich recht?«
»Nicht schlecht, Herr Kommissar, mein Kompliment. Freut mich, dass wir so schnell zur Sache kommen können.« Mischa Bartosz, Oberleutnant in Diensten der DDR-Staatssicherheit, stieß ein galliges Lachen aus. »Aus diesem Grund werde ich es jetzt kurz machen.« Bartosz ließ seine Kippe fallen und beförderte sie mit dem Fuß in den Rinnstein. »Wie ich wohl nicht weiter ausführen muss, sind Sie, Herr Kriminalhauptkommissar, beileibe kein Unbekannter für uns. Spätestens seit dem Tag, an dem eines unserer Kommandos mit Ihnen und Ihrem – wie drücke ich mich jetzt bloß akkurat aus? –, mit Ihrem ehemaligen Weggefährten Kuragin Bekanntschaft gemacht hat.«
»Falls es um das Bernsteinzimmer geht: Vergessen Sie’s.«
Das Dauerlächeln auf dem Gesicht von Bartosz verschwand. »Nach Preziosen jedweder Art, Herr von Sydow, steht mir momentan nicht der Sinn.«
»Mir auch nicht.«
»Freut mich zu hören. Was mich dagegen weitaus mehr interessiert, wäre, Näheres über den Aufenthaltsort Ihres sogenannten Freundes zu erfahren, den es vor acht Jahren quasi über Nacht ins gegnerische Lager verschlug.« Um einer Erwiderung von Sydow zuvorzukommen, hob Bartosz ruckartig die Hand. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Kommissar. Nichts läge mir ferner, als Druck auf Sie auszuüben oder Sie zu etwas zu zwingen, was Ihnen von Grund auf widerstrebt. Aber die Sache ist nun mal die, dass meine vorgesetzte Behörde ein vitales Interesse daran hat, mit Herrn Kuragin in Kontakt zu treten.«
»Geben Sie sich keine Mühe. Von mir erfahren Sie kein Wort.« Drauf und dran, zur Waffe zu greifen, ließ Sydow sein Gegenüber nicht aus den Augen. Typen wie dieses Grinsegesicht, die einen auf verständnisvoll machten und bei passender Gelegenheit jeden noch so menschenverachtenden Befehl ausführten, waren ihm im Verlauf seiner Karriere schon des Öfteren begegnet, für seinen Geschmack viel zu oft. Deshalb hatte er nicht übel Lust, dem Stasi-Schergen eine Lektion zu erteilen, und zwar eine, die er so schnell nicht vergessen würde. »Selbst wenn ich wüsste, wo Kuragin steckt, wären sie der Letzte, dem ich es auf die Nase binden würde.«
»Gestern Abend, vor ziemlich genau 24 Stunden, hat Kuragin versucht, Sie anzurufen. Von einer Gaststätte in der Nähe des Alexanderplatzes. Die Frage ist, warum. So leid es mir tut, Herr von Sydow, ich muss darauf bestehen, dass Sie mir gegenüber etwas gesprächiger …«
»Und ich, Sie Mielke-Lakai, muss darauf bestehen, dass Sie die Beine in die Hand nehmen und verduften. Sonst können Sie was erleben!«
»Na schön, Herr Kommissar, Sie haben es nicht anders gewollt.« Das stets gleiche, wie eingekerbt wirkende Lächeln im Gesicht, warf Bartosz einen Blick auf Sydows Sakko, unter dem sich der Haltegurt seines Pistolenhalfters abzeichnete, neigte den Kopf zur Seite und sah ihn mitleidig an. »Bedauerlich, dass Sie sich weigern, mit uns zu kooperieren.« Daraufhin wandte er sich um und verschwand. So schnell, dass Sydow glaubte, er habe Halluzinationen.
Der Gedanke war natürlich völlig absurd, und noch während er in die Seitenstraße einbog, die zum See hinunterführte, löste sich die unwirtliche Szenerie auf einen Schlag auf. Schuld daran war nicht etwa sein Haus, dessen Konturen sich in der Dunkelheit abzeichneten, sondern ein urplötzlich aufleuchtendes, grelles, ihn nahezu vollständig blendendes Licht.
Dass es sich um die Scheinwerfer einer schwarz lackierten Limousine russischer Bauart handelte, konnte Sydow allenfalls erahnen. Eines wurde ihm jedoch auf Anhieb klar. Dies hier war kein Versehen. Oder ein Dummejungenstreich. Oder der Versuch, ihn einzuschüchtern, weichzuklopfen oder mit Brachialgewalt gefügig zu machen.
Nein, hier ging es um etwas anderes. Nämlich ums nackte Überleben.
Kaum war ihm der Gedanke gekommen, als der Vierzylindermotor des Moskwitsch 402 so laut aufheulte, dass er die Stille ringsum jäh zerplatzen und Sydow wie zu einer Salzsäule erstarren ließ. Die Entfernung zu ihm betrug knapp 50 Meter, viel zu wenig, um groß nachdenken oder gar flüchten zu können. Rechts von ihm ein übermannshoher, mit Efeu überwucherter Gartenzaun, vor ihm die Straße und zur Linken eine Buche, bis zu der er es wohl kaum schaffen würde. Sydow biss die Zähne zusammen. Wer auch immer in dieser Karre saß, hatte die Stelle mit Bedacht gewählt, war bestimmt nicht auf den Kopf gefallen. Oder, weitaus wahrscheinlicher, ein mit allen Wassern gewaschener Profi. Einer, der sich aufs Töten verstand.