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Fast gleichzeitig stieß er Ross von sich und zielte auf die Stelle, wo das Mündungsfeuer der Kalaschnikow aufgeblitzt war. Er tat dies aufs Geratewohl, und, wie er genau wusste, auf die Gefahr hin, dass die nächste Garbe seinen Körper in Stücke reißen würde.

Aber Juri Andrejewitsch Kuragin, nicht gerade eine Spielernatur, hatte Glück. Sein auf gut Glück abgefeuerter Schuss war ein Treffer. Und nicht nur das. Einen Laut auf den Lippen, welcher demjenigen eines waidwunden Tieres glich, bäumte sich sein bis dahin unsichtbarer Gegner auf, ließ die Kalaschnikow aus der Hand gleiten und torkelte auf den Rand des Talkessels zu. Dort blieb der Helfershelfer von Ross stehen, so als sei er zu Stein erstarrt. Danach geriet er ins Wanken, überschlug sich und blieb inmitten von Glasscherben, Unkraut und Abfall liegen.

Kuragin verlor keine Zeit. Ohne einen Blick, geschweige denn einen Gedanken auf ihn zu verschwenden, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Mann, der nur wenige Schritte von ihm entfernt am Boden kauerte. Außer der Schusswunde, die auf Kuragins Konto ging, hatte er einen Streifschuss an der linken Hüfte abbekommen, was bedeutete, dass von Jermaine Ross, Calabreses Mann fürs Grobe, vermutlich keinerlei Gefahr mehr ausgehen würde. Doch davon ließ sich Kuragin, der mit gezückter Waffe neben ihm stand, nicht blenden. »Na, wen haben wir denn da!«, höhnte er, beugte das Knie und drückte ihm seine Tokarew so heftig gegen die Schläfe, dass Ross krampfartig zusammenfuhr. »Mit Ihnen habe ich schon gerechnet. Wenn sich der Handlanger von Calabrese die Ehre gibt, muss es sich um etwas Besonderes handeln.«

»Scher dich zum Teufel, Russki!«, zischte Ross, von Krämpfen geschüttelt, gegen die er sich vergeblich aufbäumte. »Aus mir kriegst du so schnell nichts …«

»Na schön, Ross – anscheinend wollen Sie es nicht anders«, unterbrach ihn Kuragin und trat seinem Gegenspieler so heftig gegen die Hüfte, dass dieser laut aufjaulend auf dem Rücken landete. Bevor er wusste, wie ihm geschah, war Kuragin über ihm, beugte sich nach vorn und richtete die Tokarew auf seine Stirn. »So, und jetzt werden Sie mir sagen, wer das alles angezettelt hat.«

»Kannst … kannst du dir das nicht denken?«, keuchte Ross, wohl wissend, dass ihm nichts anderes übrigblieb.

»Ich zähle jetzt bis drei, Sie Versager. Danach können Sie sich auf etwas gefasst machen.«

»Na, wenn schon. Ich habe nichts zu verlieren.«

»Außer Ihrem Leben«, spöttelte Kuragin, ein verächtliches Lächeln im Gesicht. »Folglich würde ich mir genau überlegen, was ich tue.«

»Was soll das heißen, du Hurensohn?«

»Wie gesagt – wenn ich Sie wäre, würde ich den Mund nicht so voll nehmen. Sonst bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit ein paar ehemaligen Kollegen vom KGB in Verbindung zu setzen«, fügte Kuragin mit süffisanter Miene hinzu und wunderte sich, wie glatt ihm der Bluff, den er gerade inszenierte, über die Lippen kam. »Nach einem Mann ihres Schlages und mit Ihren Kenntnissen würden die sich nämlich die Finger lecken. Oder glauben Sie allen Ernstes, Sie können mir etwas vormachen? Raus mit der Sprache, Ross, was führt ihr Herr und Meister im Schilde?«

»Und was, wenn ich nicht im Bilde bin?«

»Schluss mit dem Theater. Es sei denn, Sie sind erpicht darauf, die Gastfreundschaft des KGB am eigenen Leib zu verspüren. Mit Betonung auf verspüren, falls Sie verstehen, was ich meine.«

»Gut und schön, aber was springt für mich dabei heraus?«

»Erst die Ware, dann die Gefälligkeiten. So, und jetzt machen Sie gefälligst den Mund auf, Ross«, drohte Kuragin, ein Flackern im Blick, das nichts Gutes verhieß, »bevor ich am Ende die Geduld verliere!«

»An allem ist nur Calabrese schuld.«

»Was Sie nicht sagen. Raus mit der Sprache, Ross, ich habe nicht ewig Zeit.«

»Calabrese und Dulles, meinte ich. Ginge es nach denen, wäre Kennedy die längste Zeit Präsident gewesen.«

»Eine Intrige nach Art des Hauses, so, so. Mehr haben Sie nicht zu bieten?«

»Keine Intrige, Kuragin, sondern ein organisiertes Komplott.«

»Mit welchem Ziel?«

»Mit dem Ziel, den Russen einen Denkzettel zu verpassen. Damit uns nicht die Felle davonschwimmen. So wie neulich auf Kuba. Kommunistenpack, verfluchtes. Besitzt die Frechheit, uns auf der Nase herumzutanzen. Und Kennedy schaut einfach nur zu. Rührt keinen Finger und spielt den Ahnungslosen. Aber nicht mit uns, Genosse Chruschtschow! Das lassen wir uns nicht bieten. Höchste Zeit, dass ihm jemand eine Kugel verpasst. Sonst ruiniert dieser Scheißkatholik noch das ganze Land.«

»Genug der Vorrede, Ross. Und nicht ganz so nebulös, wenn ich bitten darf.«

Ross antwortete mit einem lang gezogenen Stöhnen. »Alles, was recht ist, Kuragin –«, röchelte er, die Augen auf einen Punkt gerichtet, der nur in seiner Fantasie existierte, »bist du wirklich so schwer von Begriff, wie du tust? Wenn … wenn es einen Ort gibt, der für eine Provokation taugt, dann ja wohl Berlin!« Ross lachte hämisch in sich hinein. »Peng – und schon gehen alle aufeinander los. Keine große Kunst, hier einen Krieg anzuzetteln. Ein Möchtegern-Gigolo, der in die Venusfalle tappt, eine russische Spionin, die spurlos verschwindet, Geheimdokumente, die auf wundersame Weise in unsere Hände fallen, ein … ein kleiner Raketenangriff, und schon ist dieser Schlappschwanz von Präsident gezwungen, Farbe zu bekennen!«

»Das heißt, die CIA hat vor, Raketen auf russisches Ge …«

»Nicht wir auf die Russen, wo denkst du hin. Sondern die auf uns!«

Kuragin schüttelte ungläubig den Kopf. »Sehe ich das richtig, Ross –«, raunte er, bemüht, seine Erregung zu verbergen, »Calabrese und Konsorten haben vor, eine russische Raketenbatterie zu kapern, mit dem Ziel, das vorhandene Arsenal auf Westberlin abzufeuern?«

»Was heißt hier vorhaben«, keuchte Ross, ein boshaftes Lächeln im Gesicht. »Soweit ich weiß, ist die Aktion bereits angelaufen.«

Außer sich vor Zorn, verlor Kuragin die Geduld, packte Ross am Kragen und riss ihn zu sich empor. »Wo, Ross?«, schäumte er, so grimmig, dass der Angesprochene den Blick abwandte. »Von wo aus sollen die Rakten abgefeuert werden – und wann?«

»In knapp sechs Stunden, Herr Kollege. Sieht so aus, als müsstest du dich …«

»Von wo aus, verdammt noch mal!«

»Suchet in Rangsdorf«, spöttelte Ross, während seine Hand in die Hosentasche glitt und den Griff eines Stiletts umschloss. »Suchet, so werdet ihr finden. Tja, Kuragin, scheint so, als wärst du in einer Sackgasse gelandet.«

»Es sei denn, ich würde meine Beziehungen spielen lassen. Sie wissen doch, Ross: Einmal KGB, immer KGB. Bin mir sicher, meine Ex-Kollegen wären brennend daran interessiert, in Rangsdorf nach dem Rechten zu sehen. Tut mir leid für Sie, Ross – ehrlich.«

»Ach, ja?«

»In der Tat, Herr Kollege«, spöttelte Kuragin, ließ von seinem Erzfeind ab und entfernte sich. Kurz darauf, in knapp zehn Metern Entfernung, hielt er inne und drehte sich in aller Gemütsruhe um. »Vor allem, weil Sie sich nicht an die Spielregeln gehalten haben.«

Dann zielte er und drückte ab.

23

Gästehaus der DDR-Regierung am Großen Döllnsee / Uckermark | 22.09 h

»Operation Rose wie geplant durchführen, trotz Fahndung nach mutmaßlichem Verräter. In Ordnung. Verlass? Auf uns? Aber selbstverständlich, Nikita Sergejewitsch«, katzbuckelte SED-Chef Walter Ulbricht und legte sich derart ins Zeug, dass er im Eifer des Gefechts sogar eine Verbeugung machte. »Vermeidung von Übergriffen und Ignorieren gezielter Provokationen – verstehe. Wie bitte? Aber natürlich haben wir alle verfügbaren Kräfte in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzt. Defensivstrategie – wie besprochen. Wahrung alliierter Rechte, Beschränkung sämtlicher Maßnahmen auf das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik. Verhinderung von Übergriffen, Schusswaffengebrauch nur im Notfall. Alles vermeiden, wodurch sich die Westmächte provoziert fühlen könnten. Und was passiert, wenn die Imperialisten Ernst ma… verstehe. Sie sind es, der das Sagen hat, ganz Ihrer Meinung. Operationsbeginn? In genau einer Stunde und 50 Minuten. Truppenstärke? Knapp 40.000 Mann. Keine Sorge, Nikita Sergejewitsch, wir sind bestens vorbereitet.« Das Porträt im Blick, auf dem der ordengeschmückte Staats- und Parteichef abgebildet war, platzte Ulbricht nur so vor Tatendrang. Endlich war es soweit, der Moment, auf den er seit Monaten hingearbeitet hatte, zum Greifen nah. Vorausgesetzt, es käme nichts dazwischen, würden die Maßnahmen, über die nur die Wenigsten im Bilde waren, demnächst in Gang gesetzt werden. Von ihnen, aber auch vom reibungslosen Verlauf der Operation Rose, hing eine Menge ab. Unter anderem sein politisches Überleben. »Auf dem Laufenden halten – aber selbstverständlich! Doswidanja!, Genosse Chruschtschow – auf bald!«