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Fest entschlossen, seinen Worten Taten folgen zu lassen, ließ Ulbricht den Hörer auf die Gabel fallen und verließ sein Arbeitszimmer. Es war an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen und die Genossen draußen auf der Terrasse über sein Gespräch mit Chruschtschow und den Grund, weshalb er sie hierher zitiert hatte, in Kenntnis zu setzen. Außer Honecker, seinem Cheforganisator, der die Operationen vom Polizeipräsidium in der Keibelstraße aus leitete, gab es nur ein paar Dutzend Eingeweihte, unter ihnen Stasi-Chef Erich Mielke und der sowjetische Botschafter. Ansonsten kursierten natürlich Gerüchte, jede Menge sogar. Aber die gab es ja bekanntlich immer. Wirklich durchgesickert war von der geplanten Aktion jedoch nichts. Ulbricht kratzte sich verlegen hinterm Ohr. Na ja, beziehungsweise so gut wie nichts.

In Gedanken bei der Rede, die er in Kürze halten würde, holte der Erste Sekretär des ZK der SED tief Luft, las sich die Notizen durch, die er sich in aller Eile auf ein Blatt gekritzelt hatte, und ließ die vergangenen Tage und Monate Revue passieren. Das macht uns so schnell keiner nach!, zog er Bilanz, mit sich und der Welt restlos zufrieden. Die da draußen auf der Terrasse werden aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Mehr als 18.000 Betonpfosten, dazu 150 Tonnen Stacheldraht, fünf Tonnen Bindedraht und zwei Tonnen Krampen. Darüber hinaus genug Material für eine provisorische Barriere rund um Berlin, auf einer Länge von sage und schreibe 155 Kilometern. Auf so etwas war der Westen nicht vorbereitet, am allerwenigsten dieser Brandt.

Für seine Verhältnisse ungewöhnlich entspannt, warf Ulbricht einen Blick auf die Uhr und setzte den Weg zur Terrasse, von wo aus ihm der Klang von Sektgläsern, das Geklapper von Besteck und gedämpftes Gelächter entgegenschlug, mit beschwingten Schritten fort. In der Tat ein Grund zum Feiern, dachte er, während er die Gasse durchschritt, die sich bei seinem Erscheinen bildete. Die Zeiten, in der pro Tag mehrere tausend Republikflüchtlinge die Grenze überquerten, waren unwiderruflich vorbei. Vorbei auch die Tage, in denen er im Westen nicht für voll genommen und zu einer Witzfigur degradiert worden war. Vom morgigen Tage an würde die Weltgeschichte einen anderen Verlauf nehmen und der Sozialismus, an dessen Überlegenheit er nicht den geringsten Zweifel hegte, seinen endgültigen Siegeszug antreten.

»Genossen!«, begann Ulbricht, seiner selbst und der Wirkung, die sein Auftreten erzeugte, wie immer voll bewusst. »Kampfgefährten, verdiente Kader unserer Sozialistischen Einheitspartei! In meiner Eigenschaft als Erster Sekretär des Zentralkomitees, Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates und Staatsratsvorsitzender habe ich euch eine wichtige, uns alle betreffende und streng vertrauliche Mitteilung zu machen.« Ulbricht räusperte sich und warf einen Blick in die Runde. Es war kühler geworden, definitiv zu kühl für die Jahreszeit. Im Schein der Laternen, welche die Terrasse flankierten, wirkten die Gesichter der versammelten Parteigrößen, Funktionäre und Spitzenbeamten merkwürdig bleich, und wie immer tat er sich schwer, seine Hemmungen zu überwinden. Er fragte sich, was wohl in ihren Köpfen vorgehen mochte, ob sie die Neuigkeiten, die er überbringen würde, ohne Weiteres hinnehmen würden. Vertrauen hatte er ohnehin zu niemandem, nicht einmal zu seinen engsten Weggefährten. Genau deswegen hatte er die illustre Runde herbeizitiert, nicht etwa, weil er sich auf die Anwesenden verlassen konnte, sondern weil er sie hier, mitten in der Schorfheide, besser unter Kontrolle haben würde. Wie pflegte man während der Stalin-Ära doch zu sagen: ›Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.‹ Was die führenden Köpfe der DDR betraf, war dem nichts hinzuzufügen.

Eingedenk dieser Tatsache wartete Ulbricht ab, bis sich die Verblüffung, die er in manch einem Gesicht zu entdecken glaubte, wieder gelegt hatte, hob das Kinn und deklamierte in dem für ihn typischen, mitunter ins Schrille kippenden Ton: »In genau 100 Minuten, Genossinnen und Genossen, wird die Aktion, in deren Details ich euch nunmehr einweihen möchte, ihren Anfang nehmen. Aus Gründen, die euch sicherlich einleuchten werden, haben Genosse Chruschtschow und ich es vorgezogen, sie bis jetzt geheim zu halten. Außer den für die praktische Durchführung der Operation Rose verantwortlichen Geheimnisträgern, zum Beispiel den Genossen Mielke und Honecker, ist so gut wie niemand darüber in Kenntnis gesetzt worden. Die Gefahr, dass etwas durchsickert, erschien mir zu groß, als dass man das Risiko hätte eingehen können, einen größeren Personenkreis in die Planungen miteinzubeziehen.«

»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«

»Genau, Genosse«, pflichtete Ulbricht postwendend bei und bedachte das Politbüromitglied, auf dessen Konto die launige Bemerkung ging, mit einem argwöhnischen Blick. »Eine Maxime, die man stets beherzigen sollte. Doch zurück zum Thema. Um Mitternacht werden sämtliche Grenzübergänge, welche das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik mit dem kapitalistischen Ausland verbinden, bis auf Weiteres geschlossen. Darüber hinaus werden die bewaffneten Organe unserer Republik, das heißt Betriebskampfgruppen, Volkspolizei und NVA, dafür Sorge tragen, dass der Infiltration durch Konterrevolutionäre, Saboteure und CIA-Agenten ein unüberwindlicher Riegel vorgeschoben wird.«

»Riegel, was hat denn das zu …?«

»Das bedeutet, Genosse, dass wir von dem Recht Gebrauch machen werden, unsere Staatsgrenze so zu schützen, dass sämtliche Unterwanderungsversuche des Klassenfeindes von vornherein zum Scheitern verurteilt sein werden. Ab Mitternacht Berliner Zeit wird es niemandem mehr möglich sein, unsere Grenze zu überqueren. Weder von West nach Ost noch umgekehrt. Ganz gleich, wer es wagt, unsere Souveränität zu verletzen, die bewaffneten Organe unseres Staates werden ihn daran hindern.«

»Immer mit der Ruhe, Genosse Ulbricht, so schnell schießen die Amis nicht.«

Der Angesprochene holte tief Luft, kurz davor, dem FDGB40-Funktionär zu seiner Rechten einen Denkzettel in Sachen Parteidisziplin zu verpassen. Da dies allerdings nicht der Ort geschweige denn der rechte Zeitpunkt war, schluckte er seinen Ärger hinunter und nahm sich vor, dem feisten, sichtlich angeheiterten und für seine Eskapaden bekannten Mecklenburger bei passender Gelegenheit eine Standpauke zu halten. »Und wenn doch?«, war alles, was ihm schließlich über die Lippen kam, wenngleich der Tonfall, in dem dies geschah, für die Zukunft nichts Gutes erahnen ließ.

»Die Amerikaner? Uns angreifen? Niemals. Die sind froh, wenn sie ihre Ruhe haben. Allen voran ihr Präsident.«