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»An ihrer Stelle, Genosse«, giftete Ulbricht, nicht gewohnt, dass man ihm vor versammelter Mannschaft widersprach, »wäre ich mir da nicht so sicher.«

»Ich schon.«

»Heißt das, Sie zweifeln an meinem politischen Sachverstand?«

»Ich? Nie und nimmer«, lautete die ironische Replik. »Ich zweifle lediglich daran, ob von den Maßnahmen, die Sie, Herr Staatsratsvorsitzender, ergriffen haben, am Ende nicht doch etwas nach drüben durchgesickert ist. Machen wir uns nichts vor. Die Amerikaner haben überall ihre Leute sitzen, genau wie wir bei denen. Müsste mich wundern, wenn die Überraschung, die Sie ihnen bereiten wollen, nicht schon längst ausgeplaudert worden wäre. Alles, was recht ist, Genosse Ulbricht – so etwas kann man nicht geheim halten. Und selbst wenn – wie stehen wir dann da? Durch ganz Berlin wird ein Aufschrei gehen, wer kann, wird alles daransetzen, unsere Sperranlagen zu überwinden. Seitens unserer Verbündeten werden sich die Einwände natürlich in Grenzen halten. Logisch. Aber was ist mit der übrigen Welt? Mit den Staaten, die nicht zum sozialistischen Lager gehören? Von denen werden wir einiges zu hören bekommen, glauben Sie mir. Und wenn es dann noch Tote gibt, können wir endgültig einpacken.«

Bebend vor Erregung, hatte Ulbricht seinen Kontrahenten gewähren lassen, aber wer ihn kannte, wusste, dass ein Wutausbruch nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.

Und genau das trat ein. »Sehe ich das richtig, Genosse«, knurrte er in dem Bemühen, nach außen hin Haltung zu bewahren. »Ausgerechnet Sie, der Sie dazu verpflichtet sind, die Partei der Arbeiterklasse und ihre Organe mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, erdreisten sich, mir Vorhaltungen zu machen? Und das in Gegenwart meiner Gäste? Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin es, der hier die Entscheidungen trifft, kapiert? Für den Fall, dass Sie damit nicht klarkommen, sehe ich mich gezwungen, Mittel anzuwenden, die Sie wieder zur Vernunft bringen …«

»Bitte um Entschuldigung, Genosse Staatsratsvorsitzender, aber es ist dringend.«

»… werden. Dringend – was soll das heißen?«

Von Ulbricht unbemerkt, hatte sich der Leutnant der Staatssicherheit, schlank, bebrillt und höchstens 25, dem illustren Kreis vom Haupteingang aus genähert und dies mit einer Miene getan, die erahnen ließ, dass er keine frohe Kunde brachte. »Schlechte Nachrichten, Genosse!«, raunte er der Nummer eins der DDR ins Ohr. »Wenn ich Sie bitten dürfte, mir zu folgen!«

*

»Fehlgeschlagen? Auch das noch. Zeigen Sie mal her!« Im Begriff, die angestaute Wut an dem MfS-Beamten auszulassen, der ihm soeben einen entschlüsselten Funkspruch überreicht hatte, riss sich Ulbricht so gut es ging zusammen und ließ sich in den Ohrenbackensessel sinken, der in der weitläufigen Lobby des Gästehauses stand. Auf Komfort, Bequemlichkeit und sogar auf einen Fernsehapparat musste hier niemand verzichten, der Eindruck, man befinde sich auf einem ostelbischen Herrensitz, kam nicht von ungefähr. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sich hier noch die Nazi-Prominenz die Klinke in die Hand gegeben, was Ulbricht, der es zu seinem bevorzugten Domizil auserkoren hatte, offenbar wenig Kopfzerbrechen bereitete.

›Liquidierung Zielperson gescheitert, Erfolg der Mission ungewiss – Stop – Geheimunterlagen verschollen – Stop – Von K, ihrem Überbringer, keine Spur – Stop – Bitte um Instruktionen – Stop – Operation Rose abbrechen? Geheimhaltung nicht mehr gewährleistet – Stop – B‹

Kalkweiß im Gesicht, pendelte Ulbrichts Blick zwischen dem Unglücksboten und dem Funkspruch hin und her. »Kommt überhaupt nicht infrage!«

»Ihre Befehle, Genosse Generalsekretär?«

»Bin ich denn hier von lauter Dilettanten umgeben?«, polterte Ulbricht, worauf der Stasi-Offizier, welcher in Habachtstellung neben ihm stand, erschrocken zusammenzuckte. »Und was heißt denn überhaupt ›abbrechen‹? Dass das nicht geht, weiß Bartosz doch so gut wie ich. Können Sie mir mal sagen, Herr Leutnant, wieso ich jedes Jahr Millionen in die Stasi hineinpumpe, wenn sie es nicht mal fertigbringt, einen popeligen Hautkommissar aus dem Verkehr zu ziehen? So schwer kann das doch nicht sein.«

»Und was ist mit diesem Überläufer?«

»Der wird früher oder später mit seinem ehemaligen Spezi Kontakt aufnehmen. Darauf können Sie sich verlassen, junger Freund.«

»Und wenn nicht?«

Ulbricht runzelte die Stirn, schnappte nach Luft und ließ den Nacken auf der Lehne seines Ohrenbackensessels ruhen. „Gute Frage.“

Auf einen Schlag hundemüde, schloss Moskaus Statthalter in der DDR die Augen und dachte angestrengt nach. Sekunden später öffnete er sie wieder, winkte seinen Gesprächspartner heran und sagte: »Schönen Gruß an Bartosz, Herr Leutnant. Von mir höchstpersönlich. Operation Rose ist wie geplant durchzuführen. Verstanden? Kein Rückzieher, egal, was noch passiert. Und vor allem: Bartosz soll alle verfügbaren Kräfte zusammenziehen, um diesen Sydow zu observieren. Rund um die Uhr. Wer weiß, vielleicht macht die Stasi zur Abwechslung mal etwas richtig und schafft es, sein Telefon anzuzapfen.«

»Schon passiert.«

»Umso besser. Früher oder später wird dieser CIA-Schnüffler bestimmt Kontakt mit ihm aufnehmen. Dessen bin ich mir absolut sicher.«

»Was dann?«

Ulbricht richtete sich auf und rieb sich die Hände. »Dann, junger Freund, werden wir unser Möglichstes tun, damit dieser Sydow für immer von der Bildfläche verschwindet. Und der Verräter, dessen Namen ich hier nicht nennen will, mit dazu.«

SECHS

»Ostdeutschland blutet aus. Das gefährdet den gesamten Ostblock. Er muss etwas dagegen tun. Vielleicht eine Mauer. Und dagegen können wir überhaupt nichts machen. Ich könnte die Alliierten zum Handeln bewegen, wenn er irgendetwas mit Westberlin anstellt, aber nicht, wenn er in Ostberlin etwas tut.«

Präsident Kennedy zu Senator William Fulbright am 4.7.1961

›Kennedys Reaktionen auf den Mauerbau waren bewusst behutsam. Er blieb, wie geplant, bis zum Montagmorgen auf seinem Familiensitz und ließ lediglich durch das Außenministerium erklären, die Abriegelung West-Berlins habe keine Auswirkungen auf die alliierten Rechte in West-Berlin und den Zugang dorthin. In dieser zurückhaltenden Reaktion kommt zum Ausdruck, dass Kennedy die Berliner Mauer als Gottesgeschenk betrachtete. Warum sollte Chruschtschow eine Mauer bauen lassen, wenn er tatsächlich vorhätte, West-Berlin zu vereinnahmen?

(Aus: Robert Dallek: John F. Kennedy. Ein unvollendetes Leben. Frankfurt am Main 2005, S. 374 f.)

ROSE

Berlin / Rangsdorf / Hyannis Port

Massachusetts,

(Samstag, 12.08.1961 und Sonntag, 13.08.1961)

24

Berlin-Wannsee, Seestraße | 22.12 h

Allmählich wurde ihm die Sache zu bunt. Die Hände auf das Sims gestützt, konnte sich Sydow den Kraftausdruck, der ihm auf der Zunge lag, gerade noch verkneifen und stierte mit angespannter Miene zum Fenster hinaus. Drunten im Garten, Leas Ein und Alles, rührte sich nichts, mit Ausnahme der Buchsbaumhecken, über die gerade eine milde Brise strich. Alles war ruhig, und er hoffte, dass das Geräusch, das er soeben gehört hatte, ein Produkt seiner Fantasie gewesen war.

Keine Einbildung und das vorläufig letzte Glied in einer Serie von Tiefschlägen, die er am heutigen Tage hatte einstecken müssen, war dagegen die Schießerei vor einer guten halben Stunde gewesen. Sydow holte tief Luft. Er konnte von Glück sagen, mit heiler Haut davongekommen zu sein, und der Gedanke daran, mit wem er sich heute schon angelegt hatte, verstärkte sein Unbehagen umso mehr. Die Chance, heil aus dieser Sache herauszukommen, ging gegen Null, selbst wenn es ihm gelänge, sich die Stasi vom Leib zu halten. Gesetzt den Fall, er würde auf seine Suspendierung pfeifen, wäre der nächste Ärger ohnehin vorprogrammiert, denn dann würde er es nicht nur mit Oelßner, dem über alles geliebten Vorgesetzten, sondern mit Sicherheit auch mit der CIA zu tun bekommen, auf deren Konto der Mord an Blaschkowitz ja wohl ging. Eine Frage stand indes noch aus, wenngleich er den Gedanken, der ihm seit geraumer Zeit im Kopf herumspukte, lieber nicht aussprechen wollte. Die Frage nämlich, wer hinter dem Mord in der S-Bahn steckte und wer so kaltblütig, professionell und gerissen war, dass er es geschafft hatte, unerkannt das Weite zu suchen. Im Grunde, so Sydows Resümee, kam dafür nur jemand ganz Bestimmtes infrage, nur so würde sich das Puzzle, das er vor sich hatte, zusammenfügen.