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»Und dann ist er einfach in sein Boot geklettert und hat sich aus dem Staub gemacht?«, fragte Sydow nach minutenlangem Schweigen und drehte sich zu seiner Frau Lea um, die ihn mit forschendem Blick musterte und sich nicht zum ersten Mal fragte, wieso gerade sie mit einem Mann verheiratet war, der in jedes erreichbare Fettnäpfchen trat. »Einfach so?«

Lea nickte. »Einfach so«, wiederholte sie, im Zweifel, ob es nicht besser war, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen und Oelßner beim Wort zu nehmen. »Weißt du was, Tom? Wenn ich nicht wüsste, aus welchem Holz du geschnitzt bist, würde ich dir raten, die Finger von der Sache zu lassen. Sonst bekommst du es nicht nur mit Oelßner, sondern mit Leuten zu tun, denen man am besten aus dem Weg gehen sollte.« An die Kante von Sydows Schreibtisch gelehnt, auf dem die gleiche Unordnung wie im gesamten Arbeitszimmer herrschte, wo jeder verfügbare Quadratzentimeter mit Bücherstapeln, Akten, Ordnern und Zeitungsausschnitten belegt war, verschränkte seine Frau die Arme und beäugte den Umschlag, der immer noch ungeöffnet neben ihr lag. »Aber da ich weiß, wie du bist, behalte ich meine Weisheiten lieber für mich.«

»Du denkst also, dass es besser wäre die Sache auf sich beruhen zu lassen und für eine Weile unterzutauchen.«

»Genau das, mein Herz, wäre das Vernünftigste, was man unter den obwaltenden Umständen tun sollte. Es sei denn, man heißt Tom Sydow und nimmt seinen Beruf so ernst, dass alles andere dahinter zurückzustehen hat.«

»Nicht alles«, flüsterte Sydow, drehte sich um und gesellte sich zu seiner Frau. »Nicht alles.« Dann nahm er ihr Gesicht zwischen die Handflächen und küsste sie sanft auf die Stirn.

»Wenn dem so ist, tu mir den Gefallen und versuche nicht, den Helden zu spielen. Sonst riskierst du, dass dies unser letzter Hochzeitstag ist.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, entgegnete Sydow mit Blick auf den Umschlag, den nicht nur er am liebsten umgehend losgeworden wäre. »Fragt sich, was wir damit anstellen sollen.«

»Neugierig?«

»Dir kann man aber auch wirklich nichts vormachen«, antwortete Sydow, küsste seine Frau ein weiteres Mal und richtete sich zu voller Größe auf. »Langsam wirst du mir unheimlich.«

»Acht Jahre an der Seite eines Kriminalisten hinterlassen eben ihre Spuren. Ein Blick in deine Augen, Edler von Sydow, und ich weiß, was dir gerade im Kopf herumgeht.«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst.«

»Heißt das, du spielst mit dem Gedanken, den Dienst zu quittieren?«

»Genau.«

»Wie bitte? Du? So kenne ich dich ja gar nicht.« Perplex wie schon lange nicht mehr, schnellte Lea Sydow in die Höhe und sah ihren Mann mit zusammengekniffenen Brauen an. »Das meinst du doch wohl nicht ernst.«

»Und ob.«

»Das heißt, du hast vor, einfach aufzugeben den Dingen ihren Lauf zu lassen? Ausgerechnet du, wo du doch sonst keine Ruhe gibst, bis sich die Halunken, hinter denen du her bist, samt und sonders hinter Schloss und Riegel befinden?«

»Du hast es erfasst, Lea«, entgegnete Sydow, strich seiner Frau über die Wange und fügte hinzu: »Weißt du, Lea, allmählich geht mir wirklich die Puste aus. Da versuchst du zwei Morde aufzuklären, hetzt den lieben langen Tag durch Berlin und legst dich mit allen möglichen Leuten an. Und mit welchem Ergebnis? Genau. Suspendiert. Damit dir nur ja nicht langweilig wird, lauert dir anschließend die Stasi auf und setzt sämtliche Hebel in Bewegung, um dich ins Jenseits zu befördern. Und wieso? Wegen eines Freundes und vermeintlichen CIA-Agenten, von dem du acht Jahre nichts mehr gehört hast und der vermutlich nichts Besseres zu tun hat, als irgendwelche geheimen Unterlagen, Dossiers oder hochbrisante Dokumente, für die sich die Genossen vom MfS offenbar brennend interessieren, bei dir zu bunkern. Ohne groß nachzudenken und im Vertrauen auf deine Diskretion und die alten Zeiten. Damit dir – wie gesagt – nur ja nicht langweilig wird. Alles, was recht ist, Lea: Wenn dir da nicht der Kragen platzt, dann weiß ich nicht mehr.« Entschlossener denn je, hielt Sydow inne, hob den Zeigefinger und verkündete: »Eins weiß ich jedenfalls genau. Wir beide werden jetzt unsere Bude verrammeln, Tante Lu nach Hause kutschieren und zusehen, dass wir uns irgendwohin verkrümeln, wo uns keiner … was war denn das?«

»Es hat geklingelt, Tom.« Bevor ihr Mann, dessen Tirade abrupt unterbrochen worden war, sich wieder gefangen hatte, stand Lea Sydow bereits am Fenster und spähte zur Gartentür. Die Gestalt, die dort stand, ließ sie spürbar aufatmen, und so verlor sie keine Zeit, dem unerwarteten Besucher zu öffnen.

»Du, Kroko?«, stieß Sydow hervor, als sein Assistent kurz darauf im Türrahmen erschien und es sich als Kavalier der alten Schule nicht nehmen ließ, der Dame des Hauses den Vortritt zu lassen. »Wie kommst du denn hierher?«

»Mit dem Taxi«, erwiderte Krokowski, der Sydows Einladung, sich zu setzen, überhaupt nicht zu bemerken schien, auf ihn zustürmte und blaffte: »Wie denn sonst?«

Völlig überrumpelt, zog Sydow die Brauen in die Höhe, verkniff sich jedoch jeglichen Kommentar.

Dies war auch gut so, denn kaum stand ihm Krokowski gegenüber, begann er auch schon mit seinem Rapport. »Du wirst es nicht glauben, Tom«, redete er wie besessen auf Sydow ein, »wirst es einfach nicht für möglich halten. Halt dich fest, sonst haut es dich um!«

»Mich kann nichts mehr erschüttern, Kroko, was gibt’s?«

»Da wäre ich mir nicht so sicher!«, versetzte Krokowski und ergänzte: »Man stelle sich das einmal vor. Der Geheimdienst eines verbündeten Staates, dessen Name uns beiden wohlbekannt ist, setzt sich über Recht und Gesetz hinweg, lockt einen harmlosen Bürger in die Falle und besitzt dann noch die Kaltblütigkeit, ihn zu beseitigen. Um es kurz zu machen, Tom: Auf deine Bitte, die mir wie immer Befehl war, habe ich mich schnurstracks auf den Weg zum Domizil der Familie Blaschkowitz gemacht. Man weiß ja schließlich, was sich gehört. Und tut, was man von seinem Vorgesetzten aufgetragen bekommt. Nun gut. Da stehe ich also und zerbreche mir den Kopf, wie ich der treu sorgenden Gattin von Blaschkowitz beibringen soll, dass ihre bessere Hälfte nicht mehr unter den Lebenden weilt. Und weißt du, wie die Dame des Hauses auf die schlechte Kunde reagiert hat?«

»So gut wie gar nicht. Beziehungsweise auf höchst indifferente Art und Weise.«

»Du sagst es. Armer Schlucker aus dem Osten heiratet wohlhabende Fabrikantentochter – eine Romanze wie aus einem Groschenroman. Allerdings ohne Happy End. Sei’s drum. Nachdem mir klar war, wo es bei Familie Blaschkowitz langgeht – beziehungsweise langging –, bekam ich plötzlich einen Riesendurst.«

»Du? Ist das dein Ernst? Wie bist du denn auf die Idee ge…«

»Durch das Lamento einer gewissen Frau Blaschkowitz, die sich über den Alkoholkonsum ihres Gatten zu beklagen geruhte. Und das unmittelbar im Anschluss an die Nachricht von seinem Tod. Einerlei. Ich also nichts wie hin in seine Stammkneipe, und wie es der Zufall – oder das Glück – so will, bin ich dort umgehend fündig geworden.«